Neustart

Heute poste ich noch einmal den Anfang von «Daimon – Tödliche Fracht«, weil ich ihn entscheidend verändert und erweitert habe. Obwohl er noch sehr roh ist, finde ich ihn nun gut. Allerdings ist er sehr verschachtelt und komplex, daher würden mich Eure Meinungen interessieren.

Generell ist das Projekt schon recht weit. Dieses Mal habe ich mich von intensivstem Geplotte zu einer angedeuteten ersten Fassung vorgearbeitet. Eigentlich war der Plan gewesen, ein sehr einfaches oder zumindestens geradliniges Buch zu schreiben, daher habe ich auf Perspektivwechsel verzichtet. Anscheinend unzufrieden mit dieser Limitierung habe ich mich auf der einen Erzähllinie so weit in die Tiefe gegangen bin, dass mir fast die Birne geplatzt wäre. In den Schaffensinseln, die mir der Alltag gelassen hat, war es oft schwierig, alle bunten Bälle geschmeidig in der Luft zu halten und nicht in die Irre zu gehen. Oft hatte ich Angst, dass alles viel zu viel wird. Es gab Mafia und Unterweltkrieg, Geheimarmeen und Geheimdienst-Stellungskampf im urbanen Raum, internationale Politikgrößen, die eine Verschwörung anzetteln, einen Giftgasanschlag und Bomben, legendäre Kriegsverbrecher, deren Mythos entlarvt werden soll, illegale Handelswege in den Kongo und zwei Supermächte, die sich deswegen in den Grauzonen beharken. Dazwischen viel persönliches und den verzweifelten Kampf des Hauptermittlers ums Überleben. Der Stoff hätte für zehn Bücher gereicht, aber anscheinend wollte ich so einen Cocktail mischen.

Ich war immer irgendwie auf Kurs, aber es hat mich frustriert und gelähmt, mich so aufzureiben. Erst die Erkenntnisse des letzten Artikels haben mir vor Augen geführt, dass es nur die Angst ist, die mich in die Irre leitet. Es liegt mit nicht, dünne Bretter zu bohren, also gehe ich nun mit Freuden daran, das dicke fertigzubohren.

So episch viel ist für die erste Etappe auch nicht mehr zu tun. Etwa die Hälfte des Buches habe ich »fertig« geschrieben (-> »fertig geroht«). Der Rest steht als zumeist sehr detaillierte Szenenskizze, in der meistenteils sogar die Dialoge ausgearbeitet sind und ich nur noch anfüttern muss. Die ausufernden Fragenkataloge zu den Hintergründen der Figuren und der Handlung habe ich mir nahezu restlos beantwortet, ich kann aufhören, mich damit weiter zu quälen.

Man weiß nie, welche Biegungen und Wirrungen einem das Karma noch verordnet, aber es fühlt sich so an, als ob die Tore des Schreiblabors sich langsam aber sicher wieder öffnen werden. Im Grunde muss ich mir nur noch zutrauen, das Ende anzuvisieren und loszulaufen.

Hier erstmal der neue Anfang als Vorgeschmack …

Prolog 

Countdown 

Während die Menge vor der Bühne wogte, als hätte er sie schon mit den ersten Takten willenlos gespielt, brachen sich seine kapriziösen Töne vielfach an den Wänden der alten Goldmine. Sie waren 2.000 Meter unter der Erde nahe Antioquia im Nordwesten Kolumbiens. Viele im Publikum hatten mit dem organisierten Verbrechen ihre Millionen gemacht und waren dafür über Leichen gegangen, hätten sich normalerweise aber nicht einmal unter dem Schutz vieler Kalaschnikows zum Gold waschen hierher getraut hätten, wenn ein neuer Goldrausch extra große Profite versprochen hätte. Antioquia lag tief im Gebiet der Farc-Rebellen, bei den Minen war Präsenz und Reizbarkeit der Einheiten besonders ausgeprägt. Allein im letzten Monat waren an die 100 Menschen bei Schießereien und Vergeltungsakten gestorben. Gerade das hatte Yanis Costa aber dazu bewogen, das Auftaktkonzert der JFX-Welttournee hier abzuhalten. 

Costa war der Pate von Marseille. JFX, der »Musiker der Mafia« hatte sich bei ihm über die Jahre von einer Art Hobby zu einer substantiellen Einnahmequelle entwickelt. Nachdem er den schlaksigen Jüngling auf seinen Veranstaltungen entdeckt hatte, hatte er ihn erst exklusiv gebucht und dann zum internationalen Hype gemacht. Er hatte Namen und Herkunft zum Staatsgeheimnis gemacht und ihn an Orten auftreten lassen, an denen niemand je ein Konzert gespielt und die zum Teil niemand sonst betreten würde. Seine Konzerte hatten sich schnell zum Treffpunkt des internationalen Verbrechens und der Hochfinanz ausgewachsen, was auch die sonstigen Reichen und Schönen des globalen Jetsets in Scharen anzog und ein Ökosystem an Sünden, Deals und Konsum schuf, dessen Gewinne Costas Schutzgeldeinnahmen in der Mittelmeermetropole die meiste Zeit überstiegen. Im Rahmenprogramm gab es legendäre Pokerpartien, Käfigkämpfe mit viel Blut aber ohne Regeln, illegale Autorennen und so ausgelassene Parties, als wären es die jeweils letzten, die den Teilnehmern auf Erden vergönnt waren. 

In regelmäßigen Abständen und immer unter größter Geheimniskrämerei eröffnete JFX mit seinen ausgefeilten Klängen in verfallenen Tempelanlagen im Dschungel Myanmars bis zur Vollmondparty in Koh Kho Khan das real existierende Sodom und Gomorrha und spielte die Menge allein schon wegen der übersteigerten Erwartung und den astronomischen Eintrittspreisen  folgerichtig und zielsicher in Ekstase. 

Nach einer ruhigeren psychedelischen Passage, die den aktuellen Hit verarbeitete, löschte JFX mit dem Tritt auf seine Loopstation die derzeitige Klangwand und setzte mit erhöhtem Tempo neu an. Er verwob seine Singelnote-Linien, als würden sie sich jagen und schaltete im Sequenzerfenster die Beats und Synthesizer nach und nach dazu. Schon zu den ersten Tönen seines Solos flogen die Haare der Models in den vorderen Reihen, als wären sie auf einem Heavy-Metal-Konzert. Am Rand knutschten weitere Schönheiten andachtsvoll mit anderen Escortdamen und bewegten sich in tangoartigen Tänzen durch die Grotte oder versprühten 1.000 Euro Champagner in die stickige Luft. Auch die unbeweglichsten Oligarchen begannen bald wie auf Befehl, sich zuckend in den Tanz einzufügen und als JFX das Konzert mit Heavy Metal-Staccato und Rückkopplungen über UpTempo-Beats abschloss, tanzte die ganze Menge wie von Sinnen. 

 Er wusste, dass die Leute erwarteten, mit der erweiterten Verbeugung am Ende auch kurz mit dem abgeschirmten Genie zu feiern, aber an diesem Tag hatte er keine Kraft dafür. Niemand hatte je das Gesicht unter seiner Maske gesehen. Die Unnahbarkeit war Teil seines Mythos, er konnte es sich erlauben, sich rar zu machen. 

Linkisch deutete er eine Verbeugung nur an und taumelte von der Bühne. Die Drogen und das Adrenalin trugen ihn immer noch zuverlässig durch die Konzerte, aber danach brach er fast regelmäßig zusammen. Dieses Mal schaffte er es nicht einmal in sein Séparée. 

Als er auf den kalten Steinen des Schachts niedersank, drang noch die Melodie eines alten Chansons durch die Bässe des Djs. In der grauen Vorzeit seiner weitgehend verdrängten Kindheit hatte seine Mutter ihm das Lied vorgesungen, wenn die Kraft und Aufmerksamkeit noch für das seltsamste ihrer Kinder gereicht hatte. Jahrelang hatte er nicht mehr daran gedacht, nun war die Melodie das einzige, was ihn im Diesseits zu halten schien.

Quand il me prend dans ses bras

Il me parle tout bas

Je vois la vie en rose

Als er eine Berührung an seiner Hand spürte, schafft er es mit übermenschlicher Anstrengung, die Augenlider so weit anzuheben, dass er Aline neben sich sah. Unter Tränen sah sie ihn an, während ein Mann neben sie trat, der nicht hier sein durfte. Der nur hier sein konnte, wenn er mit seiner Musik die Tore der Hölle geöffnet und ihn zurückgeholt hätte. Der …  

Noreau schreckte auf. Alles war nur ein Traum gewesen. Mit Bildern längst vergangener Zeiten hatte er wertvolle Zeit verloren. Er versuchte, sich auf dem Krankenhausbett hochzustemmen, aber das Gift machte jede Bewegung zum Höllentrip. Kalter Schweiß trat auf der Stirn aus, seine Glieder schmerzten. Immer wieder war er nahe daran, das Bewusstsein zu verlieren. Schließlich sank er zurück, schloss tief atmend die Augen und dachte an den Auftritt der seltsamen Ärzte wenige Minuten zuvor. 

Die Männer in den grünen Seuchenschutzmitteln hatten ihm versichert, dass sie sich sofort an die Arbeit machen und alles schon wieder gut werden würde. Trotz seines Zustandes hatte Noreau aber mühelos zwischen den Zeilen lesen können, während sie ihn mit schlecht versteckter Fluchtbereitschaft auf dem Bett in dem leeren weißen Zimmer umringt hatten. In ihren Augen war er schon ein Toter. Ein Kontaminierter, der auch ihnen den Tod bringen könnte, wenn er plötzlich aufsprang und ihren High-Tech-Schutz perforierte. 

Durch den Anschlag am alten Chateau war das Urteil gefallen. Noreau hatte für seine Entscheidung, endlich aus dem Schatten des Vaters zu treten, den ultimativen Preis bezahlt. Sein Leben war zu Ende, bevor er verstanden hatte, es richtig zu leben. Ohne Ausschweifungen und Adrenalinkicks. Ohne die selbstzerstörende Wirkung der Drogen, die ihm Jahre seines Lebens geraubt hatte. Ohne die Sehnsucht danach, die ihn so oft heruntergerissen hatte.

Wie eine mächtige Welle stiegen Trauer und Wut in ihm auf und schnürten ihm den Atem ab. Mit aller Macht rang Noreau sie nieder. In seinem Zustand gab Panik dem Tod eine Freifahrt und er war noch nicht bereit zu sterben. Nicht ohne bis zum letzten Atemzug gekämpft und wenigstens den Mann mit hineingerissen zu haben, der ihm das Ganze angetan hatte. 

Daimon, dem Henker von Kivu-See!

Noch einmal nahm Noreau seine ganze Kraft zusammen und drückte sich hoch. Endlose Sekunden kämpfte er gegen den Schwindel, dann schaltete er den Alarm an den Geräten ab und löste die Sonden. Er wartete bis er ohne Anlehnen stehen konnte und schlich zur Tür. Dahinter stand ein breitschultriger Glatzkopf mit nur schlecht verstecktem Kabel im Ohr, zwei weitere Typen standen abseits mit versteinerten Gesichtern. Einer von ihnen telefonierte.

Sie hatten ihn glauben machen wollen, dass sie als Mitarbeiter einer kryptischen Seuchenschutzbehörde die einzigen waren, die ihn, zusammen mit den Spezialärzten, doch noch vor dem exotischen Gift retten konnten, das seine Lebenszeit nun herunterrasen ließ. 

Sie hätten ihn nicht unterschätzen dürfen. Noreau war neu bei der Polizei, aber er hätte sie auch blind und besoffen als Geheimdienstleute erkannt. Oder schlimmeres. Auf keinen Fall waren sie Wissenschaftler. Schon in seiner ersten Karriere hatte Noreau es lernen müssen, sofort die Beulen unter den weißen Kitteln zu erkennen, die von Pistolenläufen herrührten. Zudem war etwas in den Augen der Männer. Etwas Lebensfernes, das den Blick gegen Tod und zu viel Leben immunisierte, weil man zu oft dem ersten gegenübergetreten war.

Auch das kannte er, genug für drei Leben …

Panik schnürte Noreau wieder die Luft ab, aber darunter mischte sich sein Kampfgeist. Die Entschlossenheit bis zum Letzten zu gehen und diese Verschwörung zu entlarven, die sich bis in die höchsten Kreise von Justiz und Politik ausgebreitet hatte. 

Vorsichtig schlich er zurück zum Fenster und machte sich mit zittrigen Fingern am Schloss zu schaffen. Plötzlich war ihm klar, was er zu tun hatte. Er musst nur lange genug durchhalten. 

I – Zwei Tote in einer Nacht

Fünf Tage zuvor …

La Castellane

Als der Hyundai vor ihnen überraschend zum Überholen ansetzte, riss Noreau das Steuerrad herum und überholte beide Wagen auf dem Standstreifen. Noreau war seit drei Monaten Kommissarsanwärter bei der Polizei von Marseille und er konnte nicht behaupten, dass sich sein Partner Garcia bisher einen dabei abgebrochen hatte, Vorzüge an ihm herauszustellen. Noreaus Talent fürs Auto fahren hatte er dagegen sofort erkannt. Als hätte er ihm angesehen, dass der Neue noch bis vor Kurzem im Rahmenprogramm seiner Exklusivgigs gelegentlich im aufgemotzten Maserati des Mafia-Paten der Stadt von Bahrain bis Sao Paolo illegale Autorennen gefahren war, hatte er dem fast zehn Jahre jüngeren Novizen sofort den Fahrersitz überlassen. 

Noreau kannte keine Details und hatte sich auch für keine interessiert, aber es stand nicht gut um Garcia. Die Kollegen zogen ihn damit auf, dass er fortan bei den großen Fällen, die weiterhin selbstredend ganz und gar nicht ihm übertragen werden würden, mit dem neuen Grünschnabel vorlieb nehmen musste. Ehrgeiz und Disziplinlosigkeit hielten sich bei Garcia in einem gefährlichen Gleichgewicht und seit Ermittlungsrichterin Briand herausgefunden hatte, dass er nicht nur wegen des jüngstem Nachwuchses oft müde zum Dienst erschien, sondern in den frühen Morgenstunden nach durchwachten Wiege-Nächten auf dem Gymnastikball noch an seiner Karriere als Krimiautor feilte, hatte sie seine Dienstbefugnisse weiter beschnitten und ihm ein Disziplinarverfahren angehängt. 

Garcia war trotz seiner unbestrittenen Fähigkeiten und dem manchmal selbstmörderischen Mut das personifizierte Abstellgleis und Noreau durfte ihm bei seinen ersten Gehversuchen als Polizist nun rangieren helfen. Drei Monate waren sie Patrouillen gefahren und hatten den Kollegen assistiert, die bei ihren Fällen mit mehr Fortune gesegnet worden waren. Als sie an diesem Abend aber aus den Vierteln den Notruf abgefangen hatten, hatte Garcia seine Chance gewittert und den Neuen extra intensiv zur Eile angetrieben. 

Noreau schnitt die Bahn eines LKW, bremste scharf ab und lenkte den Wagen von der A55 herunter, ehe er in rasanter Fahrt am grell erleuchteten »Grand Littoral« vorbeifuhr. Das Einkaufszentrum wirkte in dieser Nacht mehr denn je wie ein Außenposten des Alltagskonsums, der die Immigranten und Armen der nördlichen Viertel vom mühsam sanierten Zentrum fernhalten sollte. Dahinter säumten noch vereinzelt Häuser die Straße, mit hohen Zäunen und Stacheldraht umgeben, dann begann das Niemandsland, aus dem unvermittelt Marseilles berüchtigste Armensiedlung »La Castellane« vor ihnen aufragte. 

Zu den Cités des Nordens fuhren weder Busse noch Metros. Die Polizei traute sich nur mit einem Großaufgebot in diese Dschungel aus Beton, in denen Zustände wie in den brasilianischen Favelas herrschten und die sich oft wie eine Kriegszone anfühlten. Die 500 Euro für eine Kalaschnikow aus alten jugoslawischen Armeebeständen konnten selbst Kleindealer aufbringen und damit eine vermeintliche Eintrittskarte für das Konzert der Großen lösen, die für viele eine Direktfahrt in eine Grube der schäbigen Friedhöfe der Gegend bedeutete. 

Normalerweise kam niemand in die Siedlung hinein oder heraus, ohne von den Posten der Banden kontrolliert zu werden. In dieser Nacht sorgten Dutzende Kollegen in voller Schutzmontur und mit Maschinenpistolen im Anschlag dafür, dass sie unbehelligt an den ehemals weißen Betonklötzen der Cité entlangfahren konnten. Noreau war nicht ganz klar, was Garcia sich erhofft hatte, aber etwas Exklusives gab es für sie hier nicht mehr zu holen. Sie konnten von Glück sagen, wenn sie es an den massiven Absperrungen vorbei überhaupt bis zum Tatort schafften, ohne von den Erfüllungsgehilfen der Ermittlungsrichterin aufgehalten zu werden.

Als sich die Einsatzfahrzeuge vor ihnen stauten, erregte eine Bewegung im Gestrüpp Noreaus Aufmerksamkeit. Die riesigen Katzen und Ratten von La Castellane waren in der ganzen Stadt Legende, trotzdem berührte er den Griff seiner Waffe und sah sich um. Neben einer leeren Bank abseits der engen Straße stand ein Papierkorb voll mit Wettscheinen für Pferderennen. Auf das vergilbte Plakat eines Fußballvereins war das Gedenkkreuz für den Toten einer Gangschießerei gesprayt. 

Niemand war zu sehen, selbst die sonst so zahlreichen Späher der Gangs, die Shoufs, hatten sich längst zurückgezogen. Nur zwei von ihnen warteten noch fluchtbereit auf ihren Mofas beim berühmten Block G, der Geburtsstädte der Fußballlegende Zinedine Zidane, weiße Arbeitermasken vor Mund und Nase, damit ihre Gesichter nicht erkannt werden konnten.

Noreau lehnte sich wieder auf dem Fahrersitz zurück und fuhr die Wagenfenster hoch. Sie waren noch Dutzende Meter von der Absperrung entfernt, doch schon hier roch es nach verbranntem Benzin und Plastik, überlagert vom bestialischen Gestank von verkokeltem Menschenfleisch. Als ein vorbeikommender Posten ihnen per Handzeichen bedeutete, der Spurensicherung noch ein paar Minuten Zeit zu geben, steckte sich Garcia auf dem Beifahrersitz eine Zigarette in den Mund und stieg fluchend aus. 

Garcia hatte italienische Vorfahren und in Noreaus Adern floss wie bei so vielen in der ältesten Stadt Frankreichs das Blut von der anderen Seite des Mittelmeers. Die Katastrophe der Kolonialisierung und die Armut in ihren Heimatländern hatte ihre Ahnen in die Stadt gespült. Von den provisorischen Slums am Stadtrand waren sie in den 60er-Jahren in Neubausiedlungen wie La Castellane umgesiedelt worden. Strom und fließendes Wasser hatten für einige kurze Jahre die Hoffnung auf Aufstieg und Neuanfang suggeriert, dann hatte sie die Wirtschaftskrise eingeholt. Die Wohnungen blieben, gute Arbeit wurde zur Utopie. Jahrzehntelang wurden die Viertel sich selbst überlassen. Wer hier noch Hoffnung hatte, wollte einfach nur weg.

»Verdammter Sumpf«, murmelte Noreau und wandte sich von den Blocks ab. Garcia nickte und warf seine Zigarette zu Boden. Auf das Zeichen des Beamten passierten sie die Absperrung und gingen auf das ausgebrannte Autowrack neben der verfallenen Steinhütte zu. 

Abgeschirmt von einer Reihe Bewaffneter liefen Gestalten in Weiß um die Reste des Fahrzeugs herum. Als Noreau und Garcia näher kamen, trat die leitende Pathologin Fabienne Lamar an ihrem Platz an der Fahrertür wortlos zur Seite, damit die Neuankömmlinge den verkohlten Toten auf dem Fahrersitz sehen konnten. Seit Farid Berrhama nach dem Mord am großen Mafiapaten Francis, le Belge, in 2001 dadurch zum neuen Paten aufgestiegen war, dass er Feinde und Rivalen bis zur Unkenntlichkeit verbrannte, hätte jeder Polizist in Marseille an diesen Anblick gewöhnt sein sollen. Noreau war in Marseille aufgewachsen und war in dem Leben seitdem schon durch einige Höllen gewandert. Trotzdem hätte ihn nichts in der Welt ihn auf diesen Anblick vorbereiten können. Die Leiche war mit dem Plastik der Sitze verschmolzen, das Fleisch hatte sich von den Knochen gelöst, in den Augenhöhlen klafften verrußte Krater.

»Die vierte dieses Jahr«, sagte Lamar und wendete sich wieder dem Toten zu. »Wird eine Weile dauern, bis wir etwas über die Todesursache sagen können. Und die Identität werden wir nur herausfinden, wenn wir unverschämt viel Glück haben.«

Garcia hielt sich die Nase zu und beugte sich über die Leiche.  

»Keine Anhaltspunkte bisher?«

»Ich habe noch keine Einschusslöcher gefunden, falls du das meinst, aber wenn Verbrennen die Todesursache war, muss er betäubt gewesen sein. Es gibt keine Hinweise darauf, dass er versucht hat, sich zu wehren.«

»Er?«

»Es sind die Knochen eines Mannes, die Ausprägung des ventralen Bogens am Schambein ist eindeutig.«

»Sonstige Merkmale?«

»Kräftiger Typ, etwa Anfang 30, komplett ohne Gewähr. Ethnisch gesehen wahrscheinlich afrikanische Wurzeln, mehr kann ich noch nicht sagen.«

»Das hilft uns leider nicht weiter«, murmelte Garcia. Marseille war ein Schmelztiegel für die Verlorenen der halben Welt. Allein geschätzte 90.000 Komoren lebten in der Stadt. Ein Wunder, dass es überhaupt so viele gab.

Lamar musterte Noreau. Die weiße Kapuze brachte das Blau ihrer Augen besonders gut zur Geltung. Bei all der Professionalität und der Distanziertheit, die Lamars Erscheinung im Alltag prägten, vergaß Noreau immer wieder, was für eine schöne Frau sie war. Sie machte sich gerne über Garcia lustig, wenn er versuchte, an ihr einen Macho-Status zu markieren, den das Leben mit seinen grenzamourösen Jagdgründen längst auf handliche Alltagsgröße zurückgestutzt hatte. Trotz aller Animositäten liebte sie ihn für seine Holzköpfigkeit und die ganze Brigade wusste, dass die beiden in einem anderen Leben, in dem Garcia nicht nach Dienstschluss zu Frau und drei Kindern eilen musste und Lamar weniger Abstand zu den Geistern ihrer Vergangenheit hielt, so etwas wie ein Traumpaar geworden wären. 

Noreau war nur der Neue, der sich abseits all dieser Nickligkeiten hielt, aber selbst er hatte bemerkt, dass Lamars Blicke sich, sehr zu Garcias Unwillen, in der letzten Zeit immer öfter auf ihn fixiert hatten. Wie in seiner ganzen Vergangenheit als Ex-Musikstar und verhinderter Frauenmagnet wurde seine Anziehungskraft immer dann unweigerlich größer, je mehr er sie zu neutralisieren versuchte. Seine Angst, sich zu zeigen, mündete zumeist verlässlich in die unglückliche Mission der Frauen, ihn hervorzulocken und er war es Leid, immer wieder enttäuschen zu müssen. 

Sein Gefangen-sein in sich war all die Jahre stärker gewesen als alle Beziehungsversuche und er war nach seinem Psychologie-Studium auch deswegen in seine Heimatstadt zurückgekehrt, um daran endlich etwas zu ändern. Lamar sollte dabei aber lieber keine bedeutende Rolle spielen sollte. Das konnte er Garcia nicht antun und seiner neuer Freundin Aline auch nicht.

»Natürlich hilft das nichts«, antwortete Lamar und wandte den Blick wieder zur Leiche. »Ich weiß aber auch nicht, ob ihr die seid, denen geholfen werden muss. Cazal und Mahé waren zuerst da, Briand ist mit ihnen da hinten.«

Als hätten sie auf ihr Stichwort gewartet, kündigte Geraschel die beiden Kollegen an, die mit weiteren Männern in Weiß und der Ermittlungsrichterin Briand aus dem Gebüsch neben der Hütte traten. Cazal war ein kleiner Katalane und Mahé ein Rasta-Hüne aus Sierra Leone. Die beiden hätten vom Typ her nicht unterschiedlicher sein können, hatten aber beide den gleichen schlechten Ruf. Der Umgang mit ihnen war unangenehm und es galt als sicher, dass sie für die Gangs gegen gewisse Dienstleistungen die Hände aufhielten.

 »Ein normales Opfer der Bandenkriege«, sagte Cazal, nachdem er den Kollegen widerwillig zugenickt hatte. »Bisher keine Anhaltspunkte, für wen der Mann gearbeitet hat und warum genau er sterben musste. Wenn wir den Toten mit DNA im Register haben, bekommen wir seine Identität heraus. Weiter werden wir nicht kommen, wenn es nicht Vergeltungstaten gibt, die uns Hinweise geben, was die Scheiße hier soll.«

Briand sah ihn scharf an. Wie immer trug sie einen Mantel, der elegant ihre Machtstellung ausdrückte und gleichzeitig ihre weiblichen Rundungen zur Geltung brachte. Sie galt als absolute Karrierefrau, die unter den Schluffis im Süden leichtes Spiel damit hatten, alle Abkürzungen auf der Karriereleiter als erste zu finden. Die Gerüchte, dass auch sie nicht ganz sauber war, rührten relativ offensichtlich aus der üblichen Mischung aus Neid und Sexismus, florierten aber dennoch ganz prächtig und wurden noch durch den Umstand genährt, dass Briand sich so weit es ging von den Kollegen des Reviers fernhielt. Wie man munkelte, verkehrte sie in besseren Kreisen. Parisern, wie man zu sagen pflegte.

»Es wird euch nichts anderes übrig bleiben, als damit schneller als sonst weiter zu kommen«, sagte sie mit Nachdruck. »Ich muss wissen, wer der Tote ist und warum er getötet wurde. Seit Monaten ist Unruhe in den Vierteln, die Dealer sterben wie die Fliegen. Irgendwer lehnt sich gegen Costa und die eingesessenen Machtverhältnisse auf. Ich muss wissen, wer so wahnsinnig ist.«

»In den Häusern wird aber niemand mit uns reden. Egal, was wir anstellen«, sagte Cazal und wies auf die Blocks, die durch ihre Ringstruktur in der Dunkelheit besonders stark an eine Festung erinnerten. Omertà, die Schweigepflicht, verlangte von den Gangmitgliedern und ihrer Umfeldern, taub, blind und stumm zu sein. Damit zu brechen war insbesondere dann lebensgefährlich, wenn man in den Cités zu bleiben gedachte, und wegziehen war für die meisten nicht möglich. 

Ohnehin vertraute niemand hier der Polizei. Bürgermeister Gaudin war seit weit über 20 Jahren im Amt und hatte die Siedlungen längst aufgegeben. Das organisierte Verbrechen und die Politik pflegten eine jahrhundertealte Bande. Der Filz blieb in der Stadt so hart wie der Beton der Vorstadtblocks und die Kriminalität wurde immer schlimmer. So lange sich die Kriminellen in den Vierteln aber nur selbst umbrachten und der Drogenkrieg auf die Vororte beschränkt blieb, war alles halb so wild. 

Briand war dafür bekannt, nach Gaudins Regeln zu spielen und sich nicht mit den falschen Kämpfen unnötigen Kontakt mit normal Sterblichen oder gar schlaflose Nächte einzuhandeln. Heute schien ein Tag zu sein, an dem sie zu kämpfen bereit war. Ihr Gesicht strahlte grimmige Entschlossenheit aus.

»Dann dehnt die Regeln. Droht denen, wenn es sein muss!«

Garcia und Noreau tauschten einen schnellen Blick. Es musste einiges auf dem Spiel stehen, damit eine Ermittlungsrichterin wie Briand ihre Vollzugsbeamten einigermaßen deutlich dazu aufforderte, Gesetze zu brechen, um ein paar bescheidene Ermittlungserfolge zu verzeichnen. Und das auch noch in diesem Bereich des Nordens, in dem aus Polizisten längst zuschauende Statistiker geworden waren und selbst eiserner Willen und Kompromisslosigkeit nichts mehr an der allgemeine Lage zu ändern vermochte. Jeder gute oder grenzübertretende Vorsatz änderte nichts daran, dass die Banden besser zu drohen imstande waren, egal, wie weit die Polizisten die alltäglichen Grauzonen in die tiefdunklen Bereiche auszudehnen bereit waren.

Einer der Gestalten in Weiß rief sie vom Gebüsch neben der Hütte an und winkte sie zu sich.

»Ich habe etwas«, sagte der Mann, als sie vor ihm standen und wies auf eine Blume, die in Bodennähe zwischen zwei Dornenbüschen klemmte. Briand bückte sich und verharrte minutenlang, als müsste sie einen weiteren Toten studieren. 

»Eine rote Gladiole«, sagte sie leise, als sie wieder aufgestanden war. »Wie lange liegt die schon hier?«

»Vorhin hat es kurz geregnet, die Blüte ist trocken, also keine zwei Stunden. Da sich sonst niemand hier herumtreibt, wurde sie möglicherweise vom Täter mit der Leiche hier abgelegt.«

Briand entließ den Mann mit einem Nicken und sah mit nachdenklicher Miene zum Autowrack hinüber. 

»Mit roten Gladiolen sprechen die chinesischen Triaden traditionell ihre Todesdrohungen aus. Allerdings wird sie normalerweise Todgeweihten als letzte Warnung verschickt und eine Warnung war dem Mann da hinten nicht mehr vergönnt.«

Die chinesischen Triaden kamen ursprünglich aus Hongkong, hatten ihr Netzwerk auf die ganze Welt ausgedehnt. Sie arbeiteten so verschwiegen, dass nur einige ihrer Methoden und Machtzentren bekannt waren. Neben der »Wo«-Gruppe in den Niederlanden und der »Fourteen-K-Bande« in Manchester war der »Big Circle« in Paris legendär. In Marseille wurden die Triaden nur auffällig, wenn Schutzgeldeintreibungen eskalierten, ansonsten agierten sie im Verborgenen. Meistens wurden selbst blutige Konflikte intern geklärt und Morde als Unfälle getarnt, die Eingeweihten eine deutliche Warnung waren, der Polizei aber meist nur Rätsel aufgaben. Dass nun vor der Haustür der korsischen Mafia eine solche Gewalttat verübt und vermeintlich als allgemeinverständliche Drohung inszeniert wurde, deutete auf eine seltsame Eskalation hin, die ihnen in den nächsten Wochen sicherlich noch zu schaffen machen würde.

Garcia hockte sich neben die Blume hin und legte den Kopf schief

»Also ahmt entweder jemand den Stil der Triaden nach oder die Gerüchte stimmen, dass es die Krieger des Osten sind, die an den Verhältnissen rütteln und ungewöhnlich offen um die Drogenreviere der Stadt kämpfen.«

Briand starrte auf die Blume und knetete ihre Lippen.

»Genau deswegen muss ich noch dringender wissen, was hier passiert ist.«

»Wir werden unser Bestes geben«, murmelte Garcia und stand wieder auf.

»Nicht ihr«, antwortete Briand scharf. »Ihr haltet euch bereit für alles, was sonst noch reinkommt. Cazal und Mahé, ihr bearbeitet diesen Fall und holt euch die Unterstützung von der Police National, die ihr brauchen könnt. Jegliche!«

Sie drehte sich zum Autowrack um, die Audienz für in Ungnade gefallene Polizisten war beendet. Noreau merkte, wie sehr es Garcia aufrieb, dass die beiden ungeliebten Kollegen schon wieder einen hochprofilierten Fall übertragen bekamen und ihnen anscheinend niemand etwas zutraute. Er zog ihn weg und lotste ihn hinter die Absperrung, ehe sein italienisches Temperament ihn in Schwierigkeiten brachte. 

»Als würden wir nicht existieren, verdammt«, schimpfte Garcia, als sie wieder bei ihrem Wagen angekommen waren. 

»Dieses Mal bin ich ganz froh«, antwortete Noreau. »Wird eh nichts bei rauskommen.«

»Oh doch! Das riecht nach Bandenkrieg und großer Presse. Vielleicht hat tatsächlich ein neuer Röster mit Schlitzaugen das schießwütige Parkett unserer Stadt betreten. Da wird es eine Menge zu holen geben. Unvermeidlich!« 

»Mahé und Cazal werden trotz ihrer Unterweltskontakte nicht einmal die Identität des Toten herausbekommen, wenn die Banden das nicht wollen. Die bezahlen die beiden zu gut«, antwortete Noreau. »Und wenn das tatsächlich ein Neu-Röster war, der den Korsen in ihrem Revier auf der Nase herumtanzt, werden nicht einmal die etwas wissen.«

Garcia starrte weiter auf das Treiben am ausgebrannten Wagen.

»Wahrscheinlich hast du Recht«, murmelte er. Er sah noch einmal hoch zu den beiden Shoufs auf den Mofas hinüber und ließ dann den Motor an. »Ich brauche jetzt trotzdem einen kräftigen Absacker und du bist hoffentlich dabei.«

Noreau nickte ohne zu antworten und sah durch das Seitenfenster auf den Tatort. Beim Mord an seinem Vater hatten auch Blütenblätter neben der Leiche gelegen. Damals hatte man versucht, den Blumen Spuren zu entnehmen und sie bestimmten Blumenläden zuzuordnen, ihnen ansonsten aber wenig Bedeutung beigemessen. Nun wirkte es wie ein Schlüsselhinweis, den die Ermittler zu der Zeit übersehen hatten und der nun, wie drapiert für den neuen Ermittler, eine erneute Chance der Deutung bekam.