Cosimo hat aus dem letzten Sketch von Maxim ein neues Bild gezaubert, das mich schlichtweg begeistert hat. Es sind noch Kleinigkeiten daran zu machen, aber es ist schon jetzt so stark, dass ich hier das Bild mit dazugehörigem Kapitel posten möchte.

MAXIM++

2. Maxim in der neuen Welt

Ort: BVG-Shuttle auf dem Flug nach Tempelhof II, Mauerberlin

Im Fokus der Shuttlesensoren: Maxim Lenbach, 26

Merkmale: Vollwaise und Wachsöldner, Boxchamp

Kampfbilanz: 50 K.o.-Siege in 56 Kämpfen, keine Niederlage

Herkunft: Unbekannt, aufgewachsen im Märkischen Viertel

Analyse: Bruch mit Bewegungsprofil wegen Versetzung zu Abteilung A

Sonstige Besonderheiten: Widersprüchliche Datensätze

Das Shuttle setzte zum Sinkflug an. Die Landebahnen des alten Berliner Flughafens zogen sich wie Krakenarme vom erleuchteten Säulenterminal über das Tempelhofer Feld. In der Ferne dahinter stach der Fernsehturm, umgeben vom ›Interhotel Stadt Berlin‹ und den Klotzbauten am Alex in den Nachthimmel. Die Prachtstraßen östlich davon rannen von Lichtern flankiert durch die mäßig belebte Kulissenstadt und an der Siegessäule rauschten ein paar Autoscheinwerfer vorbei, doch der Großteil zwischen dem Flughafen vor ihnen und der Mauer war nur eine schwarze Fläche und wirkte verlassen.

Maxim saß müde auf einem der breiten Sessel am Fenster und ließ das Gedudel der Infoscreens über sich ergehen. Als würden sie es nicht schon wissen, wurde den Touristen erklärt, dass man im Berlin des Jahres 2049 als Gegenentwicklung zur totalen Vernetzung und als Verschärfung der digitalen Filter-Bubble in abgeschotteten Realitäten und Sektoren lebte. Dass die Große Katastrophe sechzehn Jahre zuvor die Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit eingeschränkt hatte und Augmented Reality der Vergangenheit angehörte.

In Maxims leergehende Gedanken hinein erläuterte die Stimme mit höhnischem Unterton, was einmal dafür getan worden war, die Realität digital zu erweitern und wozu das geführt hatte. Zu bescheuerten Welten, angefüllt mit Comic-Helden, Justin Bieber und dem Silversurfer. Augmented-Reality-Jacken mit drei Meter langen Engelsflügeln, die scheinbar den Straßenlaternen entgegenflatterten und mit den Kleideraufsätzen der Mitbürger zu kollidieren drohten, obwohl sie wie der größten Teil der Szenerie nur in der Simulation existierten.

In der Augmented Reality wurden Dinge vierdimensional, jeder kannte das aus dem Geschichtsunterricht. Aber da es angeblich Regionen gab, an denen dieser Trend vorbeigegangen war und die Erkenntnisse für die Menschheit aus dieser gefährlich sorglosen Zeit zu bedeutsam waren, um in Vergessenheit zu geraten, lagen in den Shuttles zum Kulissenvierteln_Mauerberlin‹-Probierstücke aus. Gedankenverloren betrachtete Maxim das Exemplar neben seinem Sitz, und als er wieder die Blicke der zwei tuschelnden Jungen von der Sitzreihe gegenüber spürte, setzte er kurzerhand die Brille auf.

Er war nicht bereit für Fanblicke und Autogramm, für Fragen, was der Box-Champ des Märkischen Viertel, den alle nur den ›Blassen Engel des Todes‹ nannten, in einem Touristenshuttle nach Mauerberlin machte. Der Tag war verwirrend genug, er brauchte wenigstens einen Moment der Ruhe, bevor der Trubel weiterging.

Allerdings hatte er nicht bedacht, dass die Brille seine Iris scannte und sich automatisch in eines seiner Profile einloggte. Bevor er den Prozess stoppen konnte, wählte er per Gedankensteuerung das ›Skeleton Coast‹ aus, jenen legendären Boxclub am Rande des Triadenviertels, in dem zu kämpfen er sich stets geweigert hatte. Offiziell, weil ihm die Gage zu gering war, aber eigentlich deswegen, weil die Kämpfe dort russischem Roulette glichen. Zudem war der Club die Domäne des anderen gewesen: das Wohnzimmer der boxenden Polizeilegende Castorf; des Mannes, der kämpfte wie ein Kneipenschläger und dabei trotzdem so elegant und souverän wirkte, dass Maxim den großen Namen des anderen und die Unversehrtheit der eigenen Visage durch Antrittsverweigerung in Ehren gehalten hatte.

In der großen Bar über der unterirdischen Arena war noch nicht viel los, der Rauch schwebte in sich auflösenden Schwaden zur Decke der Kellerhalle, an der wie in einem Maschinenraum Heizungsrohre an den Wänden entlangliefen. Neben ein paar anderen war das Profil des Barmanns Damian aktiv, aber Maxim hütete sich davor, sich in dessen Brillenwelt einzuwählen. Er kannte seine Angebervideos: die Ritte auf Maui-Monsterwellen und Sonnenfahrten auf weißen Yachten im Barrier Reef, die allesamt zugekaufte Agenturprodukte waren. Einzig die Privatpornos, die Damian immer auf Zug- oder Clubtoiletten drehte, waren echt. Jedenfalls hatte selbst Maxim ihn schon einmal in flagranti erwischt, obwohl er auf diesen Anblick gerne verzichtet hätte.

Als an der Randleiste Chatprofile aufblinkten, schaltete Maxim sich schnell auf ›invisible‹. Er bereute, dass es auch für ihn trotz seiner seltsamen Karriere als Boxer und Elitewachsöldner keine Wege an diesen Erweiterungswelten vorbeigegeben hatte. Da diese Karriere aber anscheinend eine unerwartete Wendung genommen hatte und er vielleicht tatsächlich nun all das hinter sich lassen konnte, legte er besonders wenig Wert darauf, sich auf diese Weise zu exponieren.

Maxim wollte niemanden ohne Not in Versuchung bringen, sich über sein Verschwinden zu wundern. Es war ohnehin fraglich genug, ob der Mann ihm genug Absicherung geben könnte, um ohne böses Erwachen endgültig dieser Welt zu entkommen. Obwohl die Machtposition des Mannes in der diesseitigen Welt sogar noch größer war, wusste Maxim, wie lang der Arm derjenigen Kräfte war, die sich zuvor seine Dienste gesichert hatten. Und er wusste selbst nur allzu gut, dass der schnellste und beste Weg, Leute zum Schweigen zu bringen, eben der endgültige war.

Während das Shuttle zum Landeanflug ansetzte, legte Maxim die Brille weg und betrachtete sein Gesicht in der Scheibe: die über den Ohren sowie im Nacken geschorenen und oben zur Seite gescheitelten blonden Haare. Die blauen, melancholischen Augen und die Schatten eines Bartes auf den leicht eingefallenen Wangen. [ Optik schärfen]

Kein Jahr war vergangen, in dem er nicht einen Antrag auf Sonderaufnahme bei der Normalstadt-Polizei gestellt hatte. Nun, da man ihm erstmalig die Versetzung bewilligt hatte, fühlte es sich falsch an. Natürlich war er froh, nicht mehr im Schatten der Himmelshäuser sein Leben aufs Spiel setzen zu müssen. Im Grunde genommen hatte er sich ohnehin nie für die Kriege der Mächtigen interessiert, die in diesen dunklen Gassen ausgetragen wurden. Nichts davon ging ihn etwas an, nicht einmal das viele Geld, das es dabei unter der Hand zu verdienen gab. Aber dieses Mal hatte die Observation in den dunkleren Bereichen des Triadenviertels auch ihn besorgt zurückgelassen. Und trotz der Freude über seine neue Mission wusste er nicht, wie er dazu stehen sollte, dass ausgerechnet in einer solchen Gefahrensituation derjenige abgezogen wurde, der all die Jahre als der Begabteste und Unbestechlichste seiner Einheit gegolten hatte.

Viel Zeit, sich zu sorgen, war ihm nicht gelassen worden. Er hatte von dem Treffen zwischen den Mauerberliner Widerstandsleuten und den Kalifatsbrüdern berichtet und war umgehend kaltgestellt worden. Weil einer der Männer aus der Entourage der Widerständler von der Gesichtserkennung eindeutig dem gewaltbereiten Untergrund zugeordnet wurde und auch der Anführer der Kalifatsbrüder offen zur Fahndung ausgeschrieben war, hatte er Protest eingelegt. Wenn es den Widerständlern gelang, im MV neue Allianzen zu schließen, dann gelangten sie sicherlich auch unbemerkt in die Normalstadt – und das durfte bei Personen mit solchen Profilen eigentlich nicht riskiert werden. Aber irgendetwas war faul an der Sache. Auf seinen Alarm hätten eigentlich alle Wachsöldner ausrücken und die Gruppierungen festnehmen müssen, stattdessen erhielt nur er einen Maulkorb und wurde in die Normalstadt versetzt.

Die Situation erforderte ungewöhnliche Maßnahmen, hieß es. Einer wie er werde jetzt ganz dringend in der Normalstadt gebraucht. Er hatte noch gefragt, warum die Einsatzleitung so sicher sei, dass sich Warnstufe Doppelblau auf ein Verbrechen in der Normalstadt und nicht auf die vermutete Eskalation im viertelübergreifenden Widerstand bezog, aber ihm wurden weder Einwände noch Fragen gestattet. Das entsprach zwar durchaus dem üblichen Protokoll, Maxim war es als Wachsöldner gewohnt, keine Fragen zu stellen. Die zumeist nächtlichen Einsätze fanden immer unter obskuren Umständen statt. Allerdings musste diesmal auf der anderen Seite des Zaunes ein besonders ungewöhnliches Verbrechen geschehen sein, wenn es ihm nicht nur seine Aufnahme in die Normalstadtpolizei ermöglichte, sondern es so sehr zu Hast verleitete, dass der Mann ihm nicht erlaubt hatte, noch einmal nach Hause zu gehen.

»Es wird endgültig zu heiß für dich hier, außerdem hast du es dir verdient. Und da drüben wirst du jetzt dringender gebraucht. Doppelblau hat angeblich sogar den Kanzler in Panik versetzt. Die Sache hier bekommen wir allein in den Griff«, hatte der Mann noch in den Lärm des im Hintergrund aufsteigenden Shuttles gerufen und einfach aufgelegt.

Normalerweise machte Maxim sich nichts aus solchen Details, aber in dieser Nacht hätte er ausnahmsweise viel darum gegeben, über die Koordinaten seines ersten Treffpunktes hinaus in die Details und die möglichen Hintergründe dieses besorgniserregenden Verbrechens eingeweiht zu werden. Ein Verbrechen, das nicht nur die hartgesottensten Zwielichtgrößen, sondern selbst den Kanzler in Aufregung versetzte und anscheinend weitaus bedeutsamer war als die mysteriöse Verbrüderung von eigentlich verfeindeten und räumlich strikt getrennt agierenden Untergrund-Gruppierungen in den unwägbaren Schatten des Triadenviertels. Angesichts der Anschläge der letzten Jahre und der allseits bekannten Gefahr, die gerade von diesen Gruppen ausging, fehlte ihm die Fantasie für eine derartige Bedeutsamkeit, doch bevor er richtiges Unbehagen empfinden konnte, setzte das Shuttle schon auf der Landebahn auf.

Sofort wurde es von dem Sog der Magnetbahnen erfasst und mit atemberaubender Geschwindigkeit zum Terminalgebäude gezogen, das wie ein riesiger Halbmond das Rollfeld umschloss. Kurz davor hielt das Shuttle an und die Kabine wurde in den Untergrund gelenkt. Maxim wurde schwarz vor Augen, es ruckelte bedenklich, doch dann tauchte die Kabine schon vor dem Aufgang zum Terminal wieder auf.

Stoßartig atmete Maxim aus. Sogar er war es von Sondereinsätzen in Transporter-Shuttles gewohnt, dass beim Kabinenaustausch ein Kabinenmodul zum Entleeren in den Terminal gezogen wurde und ein anderes besetzt mit Rückflugpassagieren an seine Stelle trat. Doch bei den Gedanken an die quasi-alte Welt, in die er nun eintrat, hatte er altertümlichere Verfahren erwartet, obwohl ihm hätte klar sein müssen, dass man angesichts der Besucherzahlen auf moderne Verfahren der Fluggastabfertigung nicht verzichten wollte.

Die neue Welt dominierte die Abläufe vor den Toren der Kulissenstadt mit ihrer von DA kalkulierten und gesteuerten Effizienz, doch die alte Welt setzte sofort dahinter ein. Über quälend langsame Rolltreppen ging es mit den anderen Passagieren in die riesige Weltkriegs-Flughalle, in der ein reges Treiben herrschte. In langen Schlangen standen die Menschen an und ließen ihre Kleidungsstücke an den Style-Control-Countern überprüfen.

Die Authentizität des ›Abenteuerpark Mauerberlin‹ wurde auf dem nachgebauten Naziflughafen Tempelhof II so ernst genommen, dass niemand durch die Kontrollen gelassen wurde, der nicht wenigstens ein bisschen wie ein waschechter Mauerberliner aussah. Sven Marquardt, der ehemalige ›Berghain‹-Türsteher und nun greise Style-Kommissar der Stadt, wachte zwar nicht mehr persönlich über das Prozedere und es gab mittlerweile berechtigte Zweifel, ob er überhaupt noch am Leben war, aber er hatte seine Truppen gut dressiert. Und so sorgten, der Passkontrolle vorgeschaltet, eine Vielzahl an Leuten in guter alter ›Berghain‹-Manier für Style- und Gesichtskontrolle und nötigte die Abgewiesenen zwecks ›Aufhübschung‹ zu den Ständen der Vintage-Händler an den Rändern der Halle.

Maxim kannte den Flughafen nur bei Nacht, als ein stilles, hallendes Ungetüm, in dem sie bei Einsätzen immer so schnell wie möglich die Sperrbereiche oder wartende Shuttles angesteuert hatten. Nun war die Halle voll mit Menschen aus unterschiedlichen Ländern. Das Sprachgewirr irritierte ihn. Die Ethnien mischten sich in seinem Märkischen Viertel zwar wie an fast keinem anderen Platz der durch die große Katastrophe gebeutelten Welt, aber das waren andere Ethnien und Menschen als diese hier: hart arbeitenden Gestalten mit Bärten und weißen Gesichtern, deren Welt durch einen riesigen Zaun begrenzt wurde und die sich niemals so lauthals lachend und in bunte Hemden gehüllt durch die Szenerie freuten wie hier.

Wie so oft an Kontrollpunkten gab es auch diesmal aggressive Szenen. Eine Menschengruppe wurde ohne weitere Erklärungen von einem Großaufgebot aus CyCops in die Sperrbereiche geführt. Maxim wusste nichts über die Rituale, die in den Kulissenvierteln angesagt waren und hatte eigentlich vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein anderes Auftreten der Staatsmacht erwartet, aber insgeheim genoss er es, die Halle kurz in angstvollem Schweigen versinken zu sehen. Ein Schrei hallte noch von den Absperrungen bei den Tunnelbereichen zu ihm herüber, dann nahm die Geschäftigkeit vorsichtig wieder ihren Lauf.

Maxim wandte sich von dem Treiben ab, ehe er zu sehen bekam, ob es noch weitere Szenen gab. Diese Welt ging ihn noch nichts an, er verstand sie zu wenig, um ihre Priorisierungen nachvollziehen und ihre Gefährlichkeit einschätzen zu können. Und bei all den seidenen Fäden, an denen gerade seine neue Zukunft hing, war es ohnehin nicht ratsam, sich unbedacht in Dinge einzumischen, deren Konsequenz er nicht einmal im Ansatz abschätzen konnte.

Um keine weiteren Konflikte zu riskieren, durchquerte Maxim mit schnellen Schritten das Terminalgebäude und ging entlang der hohen Kathedralenfenster zum Seitenausgang für Offizielle. Noch einmal prüfte er seine Kleidung, rückte die Kapuze seines heuschreckengrünen Skater-Pullovers aus den Achzigern des Vorjahrhunderts zurecht, strich den am Hintern geknitterten Mantel glatt und trat durch die Schleuse.

Dahinter wimmelte es von CyCops, aus den Gängen hinter den Sicherheitsschleusen drang ein weiterer gedämpfter Schrei. Er kämpfte die Beklemmung nieder und ging auf den Ausgang zu. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass er, seit der Anruf ihn zur Eile gemahnt und er so schnell wie möglich das Shuttle bestiegen hatte, eigentlich pinkeln musste. Aber ehe er sich nach einem Klo umgucken konnte, sah er die Autos auf dem Vorplatz und den kräftigen Mann mit schwarzem Bart, gespiegelter Sonnenbrille und Palästinenserschal davor. Das musste Bachir sein, der neuer Partner.