Anfänge

Ich habe in den letzten Monaten hier nichts geschrieben und nicht einmal von meiner Recherchereise nach Marseille berichtet. Heute haben sich wie aus dem nichts Worte in mir geformt, die wieder einen Anfang setzen. Ich habe keine Ahnung, ob sie für irgendeinen außer mir Sinn ergeben, aber ich lasse es darauf ankommen. Letztendlich geht es darum, nicht immer jeden Stein 100 Mal umzudrehen und den Sinn aus allen möglichen Blickwinkeln zu hinterfragen, sondern Provisorisches zu wagen, weil unter dem Strich alles provisorisch ist.

In den letzten Tagen und Wochen ist mir wieder klargeworden, dass ich in meinem Leben vorher immer wieder stark von Angst geleitet worden bin. Angst vor Zurückweisung, Angst, nicht gesehen und noch mehr davor, erkannt zu werden. Angst vor Einsamkeit und noch größere Angst vor Menschen. Angst davor, anzukommen und davor loszugehen. Angst davor nicht zu genügen. Definiert und bemessen zu werden. Nirgends reinzupassen.

Wenn man überreflektiert ist wie ich hat man bis zu diesem Punkt im Leben schon an die 100 Mal pseudogenau erkannt, woran das vermeintlich oder ganz sicher liegt und wie man am besten damit umgeht, um dann doch immer wieder die gleichen Kreise zu drehen. Die Gedanken sind Problem und Lösung gleichzeitig und können es nicht sein. Man selbst ist Problem und die einzige Lösung, die man hat. Alles ist konstruktivistisch und damit wahllos virtuell. Es könnte ganz anders sein, wenn man sich anders erfinden würde, gleichzeitig ist alles so organisch verfestigt, dass man doch nicht aus seiner Haut kann, obwohl man seit der Pubertät gefühlt nichts anderes macht, als sich zu häuten.

Die Paradoxie ist die Essenz. Es ist schwierig, ein anderer zu werden, wenn man zugleich – eventuell mehr als alles andere – Authentizität sucht. Vielleicht liegt es daran, dass ich nun mit Kindern arbeite, dass ich mich selbst gerade wie ein kleiner Junge fühle, der die Welt nicht verstanden hat und endlich seinen Frieden damit macht.

Ich habe keine wirkliche Lösung gefunden und doch liegt wahrscheinlich gerade in der Verweigerung der Erkenntnis durch Nichterkenntnis ein Schlüssel zum Licht. Der kleine Junge hat erkannt, dass er nichts erkennen kann und redet sich nicht mehr ein, dass darin eine Leistung oder vielleicht sogar die ultimative Erkenntnis liegt.

Impliziert ist damit eine Art Strategiewechsel im Einfordern. Jahrzehntelang habe ich mir eingeredet, dass es immer Gegengewichte geben muss. Wer erkennt, muss durch Verstehen belohnt werden. Wer viel Regen erfährt, hat Anrecht auf (ebenso) viel Sonne, weil beides sich die Waage hält. Irgendwie habe ich immer darauf gebaut, dass sich dieses Gleichgewicht auch individuell manifestiert, obwohl das Gesetz der großen Zahl und die Streuung der Statistik über viele Individuen und Zustände ist, die derlei Gleichgewichte ermöglicht.

Bei der Bemessung und Anvisierung dieser Gleichgewichte ging es immer auf die eine oder andere Weise um Nachzahlung, um die Transformation des Status Quo in dessen unverwirklichte Seite. Heute ist einer der Tage, wo ich in neuer (und komplett unvollkommener) Klarheit erkenne, dass alles, was war, vergangen ist. Auch die Gedanken der letzten drei Minuten. Auch die derzeitigen, wenn man in irgendeiner Weise gedenkt, auf ihnen beharren zu wollen. Wenn etwas vergangen ist, kann es nicht eingebracht werden. Könnte/würde/hätte sind leere Worte. Wer im Regen stand, ist erstmal nur nass und nur dann potentielles Sonnenkind, wenn er den Regen komplett loslässt.

Man kann nichts festhalten und auf nichts beharren. Nicht einmal auf dem Etwas oder der Person, die man meint zu sein. Alles verändert sich in jeder Sekunde. Alles beginnt neu. Belohnt wird immer nur der Versuch, der Anfang ohne Vorbedingung. Die Freude daran ohne Angst. Die Demut, die einen scheitern lässt und Lernen ermöglicht. Wachsen. Werden im Moment und damit Sein.

Ich glaube, ich habe schon einmal von der Unendlichen Geschichte in diesem Blog geschrieben. Von dem weisen Mantra auf Atrejus Amulett („Tu was du willst“) und den mannigfaltigen Weisen, seine vermeintlich einfache Botschaft misszuverstehen. Dieses Mal geht das Erkennen tiefer. Sie geht von der Reflektion des eigenen Erkennens bis in das Nichts, das Welten zerstört. Zu den verführerischen Werwölfen und den großen Eitelkeiten, die die wahren Wünsche und das wahre Schaffen verstellen. Dieses Mal geht es zurück zum Eins sein mit sich angesichts der Dekonstruktion aller Konstruktionen, die über den Moment Gültigkeit erlangen wollen. Zum sich finden angesichts einer zerstörten Welt, die die Vergangenheit ist. Zum Neuanfang in einem Samen in der Hand der kindlichen Kaiserin, aus dem eine ganze Welt mit all ihren Farben und Geschöpfen entsteht. Immer wieder, immer neu. Niemals auf Dauer.

 

Ich habe auf diesem Blog lange nichts geschrieben, weil ich in vielfältiger Weise gefangen war. Trotzdem habe ich in jeder freien Minute geschrieben. Daneben habe ich viel Musik gemacht. Musik war eine der Welten, die ich vor 15 Jahren verloren habe. Eine Welt, die mir einmal alle Welten bedeutet hatte und dann nur noch Wüste war. Das Nichts, das Verdrängte.

Ich habe sie mir in den letzten Monaten wieder zu erschließen versucht und schließlich gemerkt, dass es nichts zu erschließen gibt. Es gibt keinen Punkt, an den man zurückkehren kann. Nie und in keiner Weise. Es gibt auch in der Rückeroberung immer nur den Neuanfang. Ich habe viel gelernt und war deswegen nie zufrieden, weil ich das nicht verinnerlicht hatte. Heute fühlt sich das anderes an. Die ewige Wiederkunft des Gleichen ist Nietzschescher Nihilismus und Hybris in der Bewertung dessen, dass etwas gleich sein kann. Erfahrung und Erkenntnis sind trügerisch, alles beginnt immer neu. Das fordert den, der wissen und festhalten will und eröffnet demjenigen Chancen, der bereit ist, loszusegeln.

Ich habe immer festgehalten, geklammert, das Gesicht abgewandt und in mir selbst wiederzufinden gesucht. Ich habe sortiert und Referenzen aufgeschichtet, die mir in den Händen zerronnen sind. Ein zehrender Teil meines Schaffens hat sich als Reaktion auf ein Außen verstanden, die ich nie bekommen, sondern immer nur befürchtet habe. Ich wende mich nun nach innen, um eine faire Antwort vom Außen zu bekommen. Um ihr gegenüber egal und doch sensibilisiert zu werden. Um in die Resonanz zu gehen und immer wieder anzufangen. Um wenigstens nicht mehr den Wahnsinn anheim zu fallen, die Zukunft aus den Daten der Vergangenheit kalkulieren zu wollen.

 

In diesem Sinne bis bald mit Neuigkeiten auch zum neuen Manuskript 😉