Eigentlich sollte ich über die Release-Vorbereitungen sprechen, aber zeitgleich zu allem muss ich umziehen. Außerdem erfahrt ihr alles eh auf der tollen Release-Party. Also schaut gerne einfach da vorbei. Hier gibt es stattdessen wieder ein Kapitel samt dazugehörigem Bild von Hye Jin 😉
1. Treffen der Verschwörer
Tag 2
00.12 Uhr
Auf den Straßen Charlottenburgs
Kulissenstadt Wilhelminisches Viertel
Das Wilhelminische Viertel war von Luschkow und seinen Planern so angelegt worden, dass es den authentischen Eindruck einer Metropole vermittelte, aber gleichzeitig schnelle Wege von den gefährlichen Vierteln rund um den Schlesischen Bahnhof zu den Theaterpalästen um die Friedrichstraße und den Flaniermeilen am Kudamm ermöglichte.
Trotz der späten Stunde war noch allerhand Betrieb auf den Straßen, als Vasquez seinen Auburn 852 SC in Richtung Westen lenkte. Er kam gut voran, wurde aber mehrfach von Kutschen, Pritschenwagen und den vereinzelten Nachtlinien der Elektrischen ausgebremst. Zudem liefen immer wieder betrunkene Flaneure auf die Straße und bestaunten lautstark sein extravagantes Gefährt.
Genervt hupte Vasquez eine besonders aufdringliche Gruppe amerikanischer Touristen beiseite, passierte das hell erleuchtete Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz und steuerte über die Potsdamer Straße auf die Lichterwelt des Kudamm-Viertels zu. Als würde es etwas bringen, trat er das Gas kräftig bis zum Boden durch und fluchte über die gemächlich am Straßenrand vorbeiziehenden Gaslaternen. Er liebte sein Auto über alles. Das auffällige Chrom des Kühlergrills, die geschwungenen Kotflügel und die lederbezogene Zweisitzerbank hatten Klasse und fielen im Viertel auf. An diesem Tag hätte Vasquez aber viel dafür gegeben, einen etwas weniger authentischen Motor unter der Haube zu haben.
Am Nollendorfplatz parkte Vasquez seinen Wagen schräg auf dem Bürgersteig und eilte im Laufschritt auf die Bar zu. Er passierte die Drehtür und trat auf die Glasbrücke über einem künstlichen Fluss. In der Bar unter ihm tobte das wilde Leben. Männer in Smokings tanzten mit Frauen in knappen Kleidern. Die Tische neben der Tanzfläche waren voll besetzt, doch Vasquez brauchte nicht lange, um seinen Ex-Partner bei der Normalstadtpolizei, Benno Sack, auszumachen. Wie immer saß er im Schatten einer Säule und rauchte eine Henry-Clay-Zigarre. Und wie immer sah der Gockel nicht zu ihm herauf, obwohl seine Körpersprache nur zu deutlich verriet, dass auch er ihn bereits entdeckt hatte.
Vasquez stieg die Treppe hinunter und setzte sich zu Benno Sack an den Tisch. Anstelle eines Grußes zog dieser mit affektierter Miene seine altertümliche Taschenuhr hervor und studierte ihr goldenes Zifferblatt.
»Du hast mich gerufen«, sagte Benno Sack und saugte gelangweilt an seiner Zigarre. Vasquez hatte keine Zweifel, dass er angesichts der Lage keine andere Wahl gehabt hatte, als dieses Treffen einzuberufen, aber er wusste, wie anders die Welt aussah, wenn man von den Zentren der Macht aus auf sie blickte.
Benno Sack war einmal sein Partner in der Normalstadt und vielleicht sogar sein Freund gewesen. Sie hatten im Zuge des Attentats auf den alten Kanzler Schrader beide ihre Karriere beschleunigt und mitgeholfen, Kanzler Söderberg auf den Thron zu hieven. An ihrer beider Hände klebte Blut, aber Sack hatte sich nicht davon abhalten lassen, seine auf besondere Weise reinzuwaschen und das Fegefeuer Vasquez zu überlassen.
Zugegeben, mit Vasquez hatte er leichtes Spiel gehabt. Während Sack nach dem Attentat auf Kanzler Schrader in seinem neuen Posten bei der Sicherheitspolizei aufgegangen und immer höher gestiegen war, hatte Vasquez sich darauf fokussiert, sein Geld zu verprassen und das süße Leben zu genießen. Er feierte in den abseits gelegenen Quartieren des Märkischen, verschaffte sich mit gezielten Bestechungen Zugang zu den spektakulären Seeschlachten in den Arenen der Außenkolonie und weitete schließlich seine Vergnügungszone auf die Schlafgemächer der Frau von Chief Stadler aus.
Als Vasquez daraufhin in die Wilhelminische Viertel strafversetzt wurde, erhoffte er sich von Sack Hilfe und deutete im Vollrausch an, was er alles über den aufstrebenden Sicherheitspolizisten Benno Sack erzählen könnte, wenn dieser ihn nicht zurück in die Normalstadt beordern ließe. Kurz danach bekamen Vasquez und sein neuer Partner Ivan in den nagelneuen Puffs um den Schlesischen Bahnhof bei einer simplen Schutzgeldeintreibung die falschen Drogen serviert. Als Vasquez auf der Liege im dunklen Hinterzimmer erwachte, lag Ivan tot in seinem Blut neben ihm, und Sack stand davor. Höhnisch wies er seinen Ex-Partner darauf hin, dass die Waffe in Vasquez’ Händen eindeutig die Tatwaffe war. Vasquez sollte sich also besser gut überlegen, welchen Mucks er noch riskierte, da er sonst Gefahr lief, als Nächstes mit einem Sack Zement an den Füßen in der Spree zu landen.
Vasquez schüttelte die Erinnerungen ab und sah auf Sacks neuen Smoking, der gar nicht erst verschleiern sollte, dass er nicht hierher gehörte. Sacks Wohlstandsbauch hatte niemals die Entbehrungen kennengelernt, die im Wilhelminischen Viertel zum authentischen Kodex gehörten. Den fetten Wanst zierte eine Schärpe, sein Ebergesicht glänzte rosig. Am liebsten hätte Vasquez Sack die Zigarre in den Rachen gerammt und ihn sofort danach im Stralauer Viertel an die Schweine verfüttert, aber angesichts der Entwicklungen der Nacht ging das nicht. Noch nicht.
»Ja, bei uns ist etwas geschehen«, sagte Vasquez und winkte dem Kellner. »Ich musste dich rufen. Am Schlesischen Bahnhof lagen drei Tote an den Gleisen. Alles deutet auf einen beginnenden Bandenkrieg hin, aber das ist gar nicht der Punkt. Der Punkt ist …«
»Ich weiß«, unterbrach ihn Benno Sack und musterte die Tänzer vor der Bandempore.
»Du weißt?« Vasquez zog die Brauen hoch. »Was genau weißt du?«
Sack nuckelte an seiner Zigarre und Vasquez überlegte, ob er die Abreibung nicht doch vorziehen konnte, wenn er das mit den Schweinen schon vertagen musste.
»Ich weiß das mit der Schießerei, und ich weiß, worauf du hinauswillst«, begann der Sicherheitspolizist leise. »Im Gegensatz zu dir weiß ich aber, dass das mitnichten der Punkt ist. Der Punkt ist, dass auch bei uns etwas geschehen ist. Oder besser gesagt, in Mauerberlin Ost. Daher würde es mich wirklich wundern, wenn du etwas zu vermelden hast, das noch wichtiger ist. An einem Tag, an dem alle weiß Gott eigene Sorgen haben …«
»Ich weiß, dass bei euch immer alles ganz doll wichtig ist«, setzte Vasquez erneut an. »Aber das war nicht irgendeine banale Schießerei. Da lag ein Orden im Schnee. Einer von den Speznas, und außerdem lagen neben den Leichen tote Kellerasseln, die …«
»… ein N wie Newski ergaben«, unterbrach ihn Sack abermals und sah ihn an. »Auch das weiß ich, für wen hältst du mich?«
Vasquez lehnte sich zurück, steckte der Kellnerin einen Schein zu und griff sich eine der Flaschen, die sie ihm auf einem Tablett hinhielt. Auf ihren Kollegen zu warten, war keine Option mehr. Er musste ganz dringend saufen.
»Also ist es keine Paranoia. Newski ist tatsächlich zurück!«, sagte Vasquez, nachdem er die Flasche abgesetzt hatte. Der Offizier der Sicheren vor ihm nickte und paffte Rauch in Richtung der weißen Säule.
»So sieht es wohl aus.«
Vasquez knallte die Flasche auf den Tisch und starrte Sack an.
»Schön, dass du so viel siehst und weißt, aber die Informationslage ist, wie du weißt, hier etwas komplexer. Wenn du also die Güte haben würdest, mir ein paar Details zu liefern, wäre ich dir ganz verflixt dankbar.«
Vasquez trank in großen Schlucken, kämpfte den Schluckauf nieder und versuchte es erfolglos mit einem Rülpser.
»Ganz der alte Schwerenöter«, feixte Benno Sack.
»Leck mich«, entgegnete Vasquez. »Ich bin außerdem in Eile, also wenn du endlich …«
»Schön, meinetwegen. Die Leichen in eurem Stinkviertel sind, wie gesagt, nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass heute Nacht im Palast der Republik auch welche lagen. Vier an der Zahl, alle von Luschkows Leibgarde.«
»Von dem Luschkow? Mr. Gnadenlos persönlich?«
»Ja, vom reichen und jetzt ganz und gar mausetoten Luschkow.« Vasquez setzte sich abrupt auf, aber Benno Sack kam ihm zuvor. »Mausetot deswegen, weil der Alte später im Heizungskeller gefunden wurde. An einem sehr makabren Banketttisch, einer Mischung aus letztem Abendmahl und Pokerrunde. Mit ausgehöhlter Magengrube. Zusammen mit zwölf anderen toten Typen, die noch mit ihm am Tisch saßen.«
»Zwölf?« Vasquez schluckte. Diese Nacht wuchs sich immer mehr zu einem bösen Traum aus.
»Ja, zwölf, aber das ist nicht alles. Im Panikraum hinter dem Plenarsaal wurde ein Hut gefunden, von dem wir beide keinen DNA-Test brauchen, um den Besitzer nennen zu können.« Vasquez setzte zu sprechen an, aber der befehlsgewohnte Offizier ließ ihn wieder nicht zu Wort kommen. »Kurzum, unser Freund Newski hat seine Karriere tatsächlich noch nicht beendet. Mit einiger Sicherheit war er es, der die Leichen zu diesem Bankett versammelt hat.«
Vasquez starrte zur Bühne, als gäbe es dort Ablenkung, und sorgte umgehend für Nachschub in seiner plötzlich arg trockenen Kehle.
»Dir ist damit klar, was das für uns bedeutet?«
»Das bedeutet für uns gar nichts«, antwortete Sack und paffte dicke Rauchringe in Richtung der weißen Säule. »Das Attentat auf Kanzler Schrader liegt Jahre zurück. Niemand wird fragen, welche Rolle Newski dabei gespielt hat. Und erst recht wird sich niemand dafür interessieren, welche Rolle Manni Vasquez dabei gespielt hat. Newski ist zurück, die aktuellen Morde haben aber mit uns und dem alten Attentat auf Kanzler Schrader nicht das Geringste zu tun. Du musst komplett paranoid sein, wenn du das denkst.«
Vasquez war eventuell paranoid, aber darüber hinaus war er mittlerweile so wütend, dass er sich kaum noch beherrschen konnte. Sollte der andere doch an seiner Ignoranz krepieren. Außerdem bestätigte ihm ein weiterer Blick auf seine Uhr, wie sehr er in Zeitnot war. Newski würde ihn vielleicht umbringen, wenn er ihn zu fassen bekam, bei Dana konnte man sich den Konjunktiv sparen. Sie massakrierte ihn mit Sicherheit, wenn Vasquez es nicht wenigstens bis zum Ende der Vorstellung ins Varieté schaffte.
Geräuschvoll stand er auf und sah Sack an, doch der ignorierte seine Präsenz bereits. Paffend zwinkerte der Dicke den beiden jungen Blondinen am Rande der Tanzfläche zu. Vasquez verdeckte ihm die Sicht.
»Paranoid oder nicht, wir sollten vorsichtig sein. Ich rufe dich, wenn ich etwas weiß, und du mich auch. Wir hängen da beide drin und schließlich habe ich noch einiges bei dir gut.«
Grußlos wandte Vasquez sich um und strebte an den Zierpalmen und dem Springbrunnen vorbei zur Treppe. Die Band heizte den Tänzern weiter ein, nur der Schweißgeruch war noch präsenter als das Opium. Trotzdem hatte Vasquez das Gefühl zu frieren, als er über die Glasbrücke zum Ausgang eilte.
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