Heute gibt es ein weiteres Kapitel mit Gemälde von Hye Jin. Passend zu unserer Release-Party auf Facebook ist das Oberthema Party. In »Todesgruß vom Meisterkiller« geht es ebenfalls immer wieder um Feierei, schließlich kommen die Touristen aus der ganze Welt auch nach Berlin, um in den Kulissenvierteln so richtig die Sau rauszulassen. Der berühmteste Feiertempel steht in Mauerberlin und wurde dem »Berghain« nach empfunden. Das steht zwar noch in Normalberlin ist aber mittlerweile komplett langweilig geworden (klar!). Alle erzählen sich, dass früher alles besser und wilder war und deswegen gehen sie auch lieber im alten neuen Berghain feiern, dem »Scherbenhain« und gefallen sich in ihren Illusionen. In einer speziellen Nacht bekommen die Besucher allerdings eine besonders abgefahrene Show geboten …

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club

Castorf sieht die Puppen erstarren 

Tag 2

23.59 Uhr

Plattenbau in der Nähe des Alexanderplatzes

Mauerberlin Ost

Mit erhobenen Händen überlegte Castorf in Newskis Versteck, woher er die Stimme des Schattenmannes kannte. Im Geiste ging er Einsätze und Nächte im Märkischen und in den Vierteln durch, aber erst, als der Mann in den leeren Raum trat und seinen wulstigen Schweinekörper vor den beiden Ermittlern aufbaute, erkannte Castorf den ehemaligen Normalstadtpolizisten Benno Sack. Dieser hatte sich damals ganz besonders angestrengt, gefälschte Beweise für Castorfs Schuld und seinen gemeingefährlichen Wahnsinn zu sammeln. Er hatte Netzseiten präsentiert, die Castorf angeblich selbst angelegt hatte, seine DNA aus Drogenabsteigen gekratzt, die Castorf nie betreten hatte, und auch sonst alles getan, um ihn und den anderen armen Teufel, Lukas Cranach, so weit zu kriminalisieren, dass man sie beide komplett aus dem Verkehr ziehen musste.

In Newskis Zimmer umkreiste Sack sie mehrmals, bevor er ihnen das Foto von Siegmeier entwand, es an seine Leute weiterreichte und die Ermittler zur Leibesvisitation in ein Nachbarzimmer führte. Die peinliche Untersuchung sparte keine Körperöffnungen aus und die anschließende Befragung geriet so intensiv, dass man an inhaltslose Schikane hätte denken können, wenn die Anzeichen nicht deutlich darauf hingedeutet hätten, dass die Sicheren und ihr großer Häuptling Sack nicht die geringste Ahnung hatten, was gerade vor sich ging. Gierig hielten sie nach jedem Strohhalm Ausschau, den Maxim und Castorf ihnen präsentieren konnten und versuchten sich an immer absurderen Drohungen. Irgendwann ließ Sack fluchend von ihnen ab und bläute ihnen ein, wie wichtig die Verhaftung Newskis und der Schutz Siegmeiers seien. Jede Störung der anstehenden Aktion der Sicherheitspolizei im Scherbenhain würde zu einer Suspendierung führen. Mindestens!

Castorf hörte bei Sacks Ausführungen gar nicht mehr zu. Der Umstand, dass sich neben dem Kanzlerattentäter Lukas Cranach, alias Luke, und dem Meisterkiller Newski nun auch Benno Sack in die erste Reihe des Geschehens drängte, ließ die Vergangenheit noch präsenter werden. Castorf wusste nicht, welche Rolle Sack bei den aktuellen Morden spielte. Ob Newski für das Attentat auf Schrader und den Tod Marias verantwortlich war, wusste er ebenso wenig und er wagte nicht einmal eine Vermutung, ob Sack ein ordinärer Profiteur oder Haupttäter der damaligen Verschwörung war. Allein die Tatsache aber, dass sich ein derart hochrangiger Offizier der Sicheren bei einer Notfallaktion wie dieser derart aufplusterte, stank zum Himmel. Und so lange die Möglichkeit bestand, dass dem alten Scheißkerl Sack das falsche Blut an den Fingern klebte, wollte Castorf sich die Option erhalten, sie ihm eigenhändig abzuhacken, falls er Beweise dafür fand.

Schließlich stieß Sack die beiden Männer mit dem Kolben seines Automatikgewehrs in den Flur, richtete ihnen aus, dass er eventuell auch ohne weitere Verstöße gegen die Dienstordnung für ihre Suspendierung sorgen würde und ließ sie von seinen Männern aus dem Gebäude eskortieren.

Im Hof der Plattenbausiedlung sahen Maxim und Castorf schweigend zu, wie der Sicherheitspolizist mit den letzten Resten seiner Limousinen-Armada abrauschte, dann wandten sie sich zum Gehen. Während der blasse Mond sich hinter Wolkengebirgen hervorschob und für kurze Zeit den Spielplatz in der Mitte der Plattenbauten in weißes Licht hüllte, gingen sie an den Ladas vorbei in Richtung Allee.

Castorf sah dem jungen Kollegen ins Gesicht und suchte nach den richtigen Worten, um ihn zum verdienten Feierabend zu überreden. An der Bushaltestelle kam ihm eine Nachricht auf Maxims Mobile zu Hilfe. Perez lud Maxim per SMS zum romantischen Nachtmahl ein und je unentschlossener Maxim wirkte, desto sicherer wusste Castorf, was jetzt zu passieren hatte. Er selbst hatte keine Sekunde darüber nachgedacht, Sacks Drohung nachzugeben und nach Hause zu gehen. Catsorf würde es nicht zulassen, dass ihn Newski ein weiteres Mal ruinierte. Er war bereit, dem Meisterkiller die Stirn zu bieten.

Trotz seiner Vorliebe für Alleingänge schätzte er mittlerweile die Zusammenarbeit mit dem jungen Kollegen, aber er zog es an diesem Abend vor, alleine Dummheiten zu machen. Eindringlich ermunterte er Maxim, es für heute gut sein zu lassen, und hatte leichtes Spiel damit. Jeder wusste schließlich, was mit seiner großen Liebe geschehen war und wie sehr Castorf es bereute, solche Möglichkeiten zur Zweisamkeit zu oft ausgelassen zu haben.

Castorf hielt Maxim vor Augen, wie schnell er gerade jetzt wieder im MV verschwinden konnte, wenn Sack seine Hebel in Gang setzte und kein Mächtiger seine Hand über ihn hielt. Der Kollege stand zwar selbst schon wieder mit mindestens einem Bein in der Klappsmühle, aber im Gegensatz zu ihm hatte Maxim etwas zu verlieren. Er hatte seine ganze Karriere noch vor sich und es war töricht, sein neues Leben für eine dumme Aktion im Scherbenhain aufs Spiel zu setzen. Lieber sollte er seine Zeit mit Perez genießen; so viel ihm noch davon blieb.

Um seine eigene Person machte sich Castorf keine Sorgen. Sein Leben war ein Freigang in einer feindlichen Welt, die immer noch fest in Söderbergs Händen lag und die ihm auch auf dem Weg durch Mauerberlin nicht ernsthafter als ein Traum vorkam. Er nahm am Flughafen Tempelhof II ein Taxi, ging durch das Trümmerareal an den Bahnschienen, passierte die Menschenschlange an den Zäunen und stand lange Auge in Auge mit dem tätowierten Scherbenhain-Türsteher. Er ignorierte die Bewegungen der Bodyguards neben dem schweren Mann und die aufgeregten Funkgespräche der Kassendame. Als der tätowierte Koloss am Eingang der Großdiskothek ihm »Schönen Abend noch!« wünschte und weiterhin keine Anstalten machte, zur Seite zu treten, hob Castorf nur sein Sweatshirt so hoch, dass der gepiercte Fettsack mit den Gesichtstattoos die Waffe im Gürtel sah. Die Leibesvisitation von Sacks Leuten in Newskis Versteck hatte schmerzhafteste Spuren in Castorfs Hintern hinterlassen und er war fest entschlossen, diesen Abend lieber mit einer handfesten Schießerei als mit einer weiteren Demütigung zu beenden.

Castorf glaubte Sack aufs Wort, dass niemand ihm zu Hilfe eilen würde, wenn er sich bei einem seiner berühmten Alleingänge mal wieder Ärger einfing. Das einzige, was er bekommen würde, war eine Dienstbeschwerde mit anschließenden Langzeitaufenthalt in der Wowereit-Klinik und im Zweifel ein Staatsbegräbnis dritter Klasse, wenn er zu weit ging. Es gab zu dieser Stunde allerdings nichts, was ihm gleichgültiger war. Anscheinend registrierte auch der Tätowierte Castorfs Entschlossenheit und machte schließlich hasserfüllt den Weg frei.

Drinnen war Castorf einen Moment lang wie erschlagen von der Kulisse. Installationen aus rostigem Metall sorgten über einer mit Körperschnitzereien verzierten Bar im Zusammenklang mit den hohen Decken für einen sakralen Anklang, der konsequent von dem Treiben der Tänzer unterwandert wurde. In den Ankündigungen zur Nacht der Subversion hatte es geheißen, dass in dieser Nacht alle Tabus fallen sollten und Siegmeiers Schäfchen hielten sich daran. Ein Pärchen vögelte auf einem Barhocker, und am Eingang zum Darkroom gab sich eine ganze Gruppe aus Frauen und Männern einander hin. An einem Pfeiler wichste ein älterer Mann und beschleunigte seine Versuche immer dann, wenn ein weiteres Mädchen ohne Oberteil an ihm vorüber ging.

Castorf hätte das alles durchaus interessiert, aber an diesem Abend war er nicht in Stimmung. Es wimmelte ohnehin von Sicherheitspolizisten, die sich Mühe gaben, wie Mauerberliner auszusehen, aber so gar nicht in das subversive Spiel passten. Castorf wusste wenig über die aktuellen Verstrickungen der Sicheren mit dem organisierten Verbrechen in den Vierteln, aber natürlich gab es sie noch. Schließlich gewährte man Männern wie Muskel-Adolf nur einen gewissen Spielraum in den Kulissenvierteln, ließ sie aber nicht die Regeln diktieren.

Castorf hatte angenommen, dass Siegmeier als etablierte Größe und Luschkow-Intimus in der Gunst der Sicheren stand. Der Einsatz in der Bombennacht legte allerdings nahe, dass die Sicheren ihn als Köder benutzten. Anders konnte sich der Ermittler nicht erklären, warum niemand ernsthaft versuchte, den Mann zu warnen, sondern alle mehr oder weniger schlecht getarnt abwarteten.

Möglichst unauffällig umkreiste Castorf die Bar. Oben war die Tanzfläche noch größer. Hier versteiften sich die meisten Besucher auf tänzerische Ekstase und hoben sich die Kopulationsfreuden für später auf. Castorf ließ den Blick über die tanzenden Massen gleiten, sah aber weder Siegmeier noch andere bekannte Gesichter. Nur die Sicheren, die auch hier ungeschickt getarnt die Tanzfläche umstanden und sich immer mehr mitreißen ließen von dem, was die halb nackten Tänzer ihnen feilboten.

»Auch Sicherheitsnazis sind schließlich Menschen«, dachte Castorf und meinte, aus dem Augenwinkel den schwarzhaarigen Jungen Manolo zu sehen. Er versuchte, ihn erneut zwischen den Tänzern auszumachen, sah aber kurioserweise Levy bei den Pfeilern auf der anderen Seite. Castorf verlor auch ihn wieder und fragte sich, ob er unter Halluzinationen litt. Dass Manolo hier war, mochte noch angehen, aber ein Typ wie Levy gehörte definitiv nicht an so einen Ort.

Castorf rieb sich schnell die Augen und versuchte, den blonden Jungen wieder zu erspähen, merkte aber, dass etwas auf der Tanzfläche passierte. Mit einem Mal richteten fast alle Tänzer ihre Gesichter nach oben. Eine kleine Bühne wurde an dicken Ketten von der Decke gelassen, und gemessen an den Blicken, die die eben noch entrückt Tanzenden ihr zuwarfen, schien etwas Interessantes darauf platziert worden zu sein.

Castorf konnte von seinem Platz aus nicht gut sehen und stellte sich um. Im Strobonebel erkannte er einige mannesgroße Puppen, die dort auf der kleinen Eisenplattform vor einem DJ-Pult lagen. Rot geschminkt kopulierten sie um einen Mann in der Mitte, und noch ehe Castorf realisierte, dass die Gesichter der Puppen ihn an das Bankett in den Katakomben des Palastes erinnerten, hörte er den Schrei. In wilder Panik stob ein Teil der Tanzenden auseinander, ein paar der Nackten starrten zur Bühne hoch, von der nun dicke Blutstropfen auf den frei gewordenen Platz in der Mitte der Tanzfläche fielen.

Die Bühne drehte sich ein Stück und plötzlich verstand Castorf die Panik der Tänzer. Der Mann an der Spitze der Plattform war ganz eindeutig keine Puppe. Mit seinem Kopf in den eigenen blutverschmierten Händen thronte Siegmeier zwischen den Ketten. Die glasigen Augen waren schmerzverzerrt, der Hals mit dem Stumpf von Blut verschmiert. Wie von Geisterhand aufrechterhalten stand er zwischen aufeinanderliegenden Puppen, die sich bei genauem Hinsehen ebenfalls als Leichen auswiesen.