Gestern Nacht ist meine Oma an den Folgen eines unerwarteten Schlaganfalls gestorben. Tagelang hatte sie regungslos dagelegen, gestern ist sie ganz eingeschlafen. Es ist erstaunlich, wie lange ein so alter Mensch ohne Wasser und Nahrung auskommt. Im Juni wäre sie 100 Jahre alt geworden und ihr Körper trug in der letzten Zeit schon deutliche Spuren davon, obwohl ihr Geist noch sehr wach war.
Über 20 Jahre lang hat sie davon gesprochen, dass sie bald sterben werde, seit 15 Jahren will sie ohnehin nur ihrem Mann auf die »andere Seite« folgen. Weiter als ein paar Monate meinte sie, nie planen zu können. Mit der Zeit hat ihr im Grunde niemand mehr geglaubt, dass sie überhaupt sterben kann. Obwohl wir wussten, dass es anders ist, meinten wir, dass sie immer da bleiben würde.

Meine Oma ist die letzte dieser schweigenden Kriegsgeneration in meiner Familie. Einer Generation, die ihre Geschichten verlieren musste, weil auch einfache Dorfbewohner wie meine Großeltern verstanden haben, dass sie Teil einer ganz schlimmen Sache gewesen waren, die alles verändert hat. Der sie sich immer weiter fügen mussten, obwohl oder weil sie nicht vollständig verstanden, was damals genau passiert ist. Und auch ein bisschen, warum das ihre Schuld sein kann, obwohl sie in ihrer (angreifbaren) Weltsicht nicht das geringste mit irgendeiner Sache zu tun hatten, die die Räder des Weltgeschehens auch nur sieht, geschweige denn dreht.

Dieses Schweigen war drückend, wirkte oft verbittert und latent aggressiv. Für mich war es das Gespenst des Alterns und der verlebten Leben und ich war nicht gerne in seiner Nähe, wenn diese Mauer auf Familienfeiern alle Alten umgab und höchstens die schlechteren der letzten Schnäpse die falschen Andeutungen entlockten.
Wir Kinder haben das akzeptiert, schließlich bestanden weite Teile unseres Geschichtsunterrichts aus dem Dritten Reich und seinen Vorläufern. Das Schweigen war gegenseitig. Als aber immer mehr Personen dieser Generation starben und die Alten nur noch ganz wenige hatten, mit denen sie wissend schweigen konnten, wurden ein paar Sachen anders. Sie wurden redseliger und wir merkten, dass die Geschichten mit ihnen sterben und wir unsere eigenen Großeltern eigentlich nicht kennen. Wir begannen Fragen zu stellen.

Vieles, was dann kam, war erwartet und überraschend zugleich. Ich wusste nicht, dass meine Oma so viele Geschwister und Cousinen hatte und verstand an ihren Tränen, warum ich sie nie kennengelernt hatte.
Die ersten Geschichten, die wiederentdeckt wurden, folgten diesen fast vorgeschriebenen Fragen. Weinend am Küchentisch erzählte sie, wie sie mit ihrer Cousine als junge Frau mit dem Fahrrad nachts durch den Bombenhagel von Malente nach Neumünster irrte, weil eine andere Cousine an den Folgen der Bombardements starb. Wie sie einfach losfuhren, bald merkten, wie verzweifelt der Versuch war und sie irgendwann trotzdem ankamen.

rantzauschloss

Die ersten, salzig schmeckenden Geschichten richteten sich an die Menschen, die sie verloren hatten. Andere folgten zaghaft. Z.B. die Episode, wie der junge Graf im tiefsten Winter einen ihrer Holzpantoffeln klaute und weit über den vereisten See schmiss. Sie war nur die Tochter des gräflichen Kutschers, er testete seine Grenzen, um bestätigt zu bekommen, dass es für ihn keine gab. Er hatte sich verschätzt. Die kleine Kutschertochter, die in der Hierarchie dieser alten Vorkriegswelt gar nicht stattfand, stapfte barfuss durch den Schnee zurück zum Gut und nahm sich den Grafen selbst vor, weil sie für den ganzen Winter nur dieses eine Paar Pantoffeln hatte. Das ändert nichts, aber das ändert mein Bild dieser »bitteren« Generation als sie davon erzählte.

Es gab ein Leben vor dem Krieg, auch in Deutschland. Es gab ein Leben neben und trotz des Leides, das es auch auf dieser Seite gab. Ein anderes Leben, das man naiv und ignorant besieht, umso mehr man es nicht sehen kann.
Einmal habe ich meine Oma gefragt, wie sie überhaupt Hochzeiten und andere Familienfeste hatten feiern können, wenn sie so arm waren und es nie Geld gab. Sie hat einigermaßen verdutzt geguckt, dann aber so gelächelt wie selten.

»Oh, wir haben große Feste gefeiert! Die schönsten Feste, die wir je hatten, waren alle zu dieser Zeit und nie brauchten wir Geld dafür.»

Mühle

Meine Oma ist auf einer Mühle ohne fließendes Wasser aufgewachsen. Es gab keine weit entfernt lebenden Verwandten, diese Welten waren klein. Trotzdem war es für viele eine weite Anreise, weil man nie reiste und nicht viel hatte, mit dem man reisen konnte. Trotzdem kamen alle. Sie blieben drei Tage und drei Tage wurde gefeiert. Die Stereoanlage war ein Akkordeon und alle haben gesungen. Die Tanzfläche war die Küche und der Luxus, den alle teilten, waren das Leben selbst und die Freude daran. Der Schnaps und das Essen, die Musik, der Tanz und das Miteinander.
Man findet oft nicht genug Zeit in seinem Leben, dreht sich hektisch um sich selbst, als gäbe es dabei die wichtigen Schlachten zu schlagen, obwohl man schon so oft gemerkt hat, wie sehr die Welt auch nach zehn weiteren Runden die gleiche ist und man so wenig in der Hand hat. Heute wünsche ich mir, ich hätte öfter nach diesen anderen Geschichten gefragt, weil sie tatsächlich meine Welt verändert haben. Sie haben mich ein wenig von der Hysterie erlöst, dass nur im Moment und im eigenen Leben die wichtigen Dinge passieren und wir mit den buntesten Herausforderungen aller Zeiten zu kämpfen haben. Z.B. damit, wie wir das Geld für die teuren Feste aufbringen können. Wie wir mit den großen Veränderungen klarkommen, die mit etwas Abstand reichlich klein wirken. Den Umbrüchen, die bei aller Komplexität so wenig wegbrechen lassen. Wenigstens verglichen mit dem, was diese alte Generation schon weggebrochen hat und hat wegbrechen sehen. Illustriert durch die Geschichten, die erzählt und noch mehr durch diejenigen, die verschwiegen wurden.

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