Trotz zwei Operationen an der Hand in den letzten Wochen hat Cosimo das Bild von Elisa und Levy in der Halle der Wisperer fertiggestellt. Ich poste es hier mit dem dazugehörigen Kapitel. Anregungen und Meinungen könnt ihr mir gerne hier zukommen lassen: http://timvogler.com/impressum/

levy Elisa OK2

5. Levy und die Gesichter der Nacht

Im Visier der Hallen-Sensoren: Elisa Brandt und Levy Schirach

Beziehungsstatus: Emo-Werte deuten auf Befindlichkeiten 

Wahrscheinlichkeit von sexuellem Kontakt in den letzten zwei Stunden: 87%

Wahrscheinlichkeit einer abnormen Reaktion in der Halle: 92%

Systemstatus: Alle Systeme auf Aufnahme

Nieselregen ging über der ›Halle der Wisperer‹ nieder und hüllte den Regierungspalast und die Stadt dahinter in einen grauen Schleier aus tiefem Himmel, unter dem alles Bewegte ins Leere lief. Selbst der anfahrende Bus wirkte nicht zugehörig, Bewegungen verflüchtigten sich. Die Wolkenkratzer aus Grün und Glas stachen ihre Spitzen verlierend ins Nichts.

Levy mochte es, wenn die Stadt so mit sich einsam wurde und alle es sehen mussten, aber heute war er zu verwirrt, um die Dinge zu sich durchdringen zu lassen. Er war unfähig, Reales zu sehen, obwohl er am Rande des BVG-Wartehäuschens stehen blieb und selbstvergessen auf den Regen starrte. Auf die riesige Kuppel, den Treppenaufgang. Die Löwen und Reiter zu beiden Seiten. Die in Stein gemeißelte Zeit.

Seit Jahren ging er schon hierher, immer allein und ohne wirkliches Ziel, auch wenn er stets vorgegeben hatte, in den Stimmen der Halle die seines Vater zu suchen. Nun stand Elisa hinter ihm und erwartete etwas. Mehr als die Auflösung von Einsamkeit in Geschichten. Sie erwartete mehr als die Kombination von anfangs Bezuglosem zu Zusammenklang und die zufällig erhaschten Tode, sie interessierte sich ausschließlich für Details zu diesem einen. Levy hatte ihr gesagt, er würde nach den Mördern ihres Vaters suchen, obwohl er überhaupt keine Ahnung hatte, wie das in der Halle ging. Alles, was er dort je gesucht hatte, war ihm verborgen geblieben. Was er nie wieder sehen wollte, war wiedergekommen. Die Gesichter der namenlosen Toten, der Klang ihrer Trauer. Der Schmerz, der in ihren Gesichtern einfror und in seinen Träumen wieder zu Leben erwachte.

Die Stimmen legten ihm Pfade, die er ganz am Anfang noch hatte verweigern können, auf denen er sich im Laufe der Zeit aber so oft verloren hatte, dass er schutzlos geworden war. Dem ausgeliefert, was die Stimmen ihm sangen. Den Geschichten verbunden, die sie ihm erzählten. Ohne Ahnung und irgendwann ohne Fragen, was aus den Bildern werden würde, die sich anfangs nur als Schatten zeigten. Über die Jahre war er geduldig mit den Stimmen geblieben, hatte ihnen Raum gegeben und sich immer wieder von ihnen verführen und forttragen lassen. Er hatte sich eingenistet in dieser Art nutzloser Verlorenheit; und nun sollte er ohne Umschweife und nur dem Nutzen verpflichtet hinter die Schatten schauen, weil er einer anderen Verführung erlegen war.

Levy starrte auf den Regen, der auf die leere Allee vor der Halle platschte und dachte an diesen merkwürdigen Tag. Er hatte nach der Begegnung mit dem seltsamen Mann in der ›Ciudad Escondida‹ fast gar nicht geschlafen. Die Wohnung war immer noch leer gewesen, als er nach Hause gekommen war, das Bett der Mutter unbenutzt. Entgegen seinen Gewohnheiten hatte er sich einen Whisky genommen und lange auf den Urbanhafen gestarrt. Auf die Lichter des Krankenhauses auf der anderen Seite. Die Lichter der Shuttles am Himmel, die an den neuerlichen Ausnahmezustand erinnerten.

Der Whisky brannte, aber er lenkte ihn für Momente vom Narbengesicht des Mannes ab. Von seinen irren Augen, als er am Spieltisch den Flug eines Vogels imitierte. Von den panischen Nachrichten, die Elisa ihm ab einem bestimmten Zeitpunkt der Nacht in hoher Frequenz geschrieben hatte. Er stürzte den Whisky hinunter und legte sich schlafen. Kämpfte mit den Bildern und erlag trotz aller guten Vorsätze seiner Neugierde. Er zog sein Mobile hervor, las Elisas Nachrichten und konnte danach erst recht nicht schlafen. Sie schrieb es nicht direkt, aber er ahnte, was sie getan hatte. Welche wahnsinnige Verzweiflungstat sie sich aufgebürdet hatte, nur weil er zu feige gewesen war, ihr beizustehen.

Stundenlang wälzte er sich von Seite zu Seite, sah über Stunden den grauen Morgen durch die Jalousien kriechen und versuchte, es seiner Fantasie zuzuschreiben, dass er auf einmal nicht nur Luschkow und das Gesicht des Narbenmannes als ein Hallencluster sah, sondern auch das Gesicht des Mädchens. Obwohl er es erst verdrängt hatte, war er sich mittlerweile sogar sicher, dass der Narbenmann und Elisa in ein und derselben Traumgeschichte gelaufen waren. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, welcher Art diese Geschichte genau gewesen war, dachte sie aber in den kurzen wirren Traumphasen weiter. Sah ihn sich zu den Klängen ihrer Schreie nackt auf ihr räkeln und schreckte auf. Krallte sich auf einmal in die bleischweren Schlaflosigkeit und glitt doch in andere Träume, in denen der Narbenmann Elisa in unterirdischen Verliesen verunstaltete. Eingesperrt hinter Gittern und umlagert vom Schlagen der Eisenstäbe auf Zellentüren, dessen Brachialität ihm im Zusammenspiel mit den Bildern fast den Verstand raubte. Irgendwann stand er auf, schlug alle guten Vorsätze und die Mahnungen des Lehrers in den Wind und fuhr zu Elisa statt in die Schule. In diesen Tempel aus Glas und kaum beherrschter Trauer, in dem sich irgendwo klanglos Mutter verbarg.

Viele Male hatte er sich in Elisas Zimmer geträumt, hatte in der Halle danach gesucht und auch davon nichts gefunden. Nun saß er auf ihrem Bett und sah auf Pokale und Design-Schnittmuster. Auf die in Weiß gehaltene Farbigkeit einer fremden Welt. Er streifte mit den Blicken umher, um sie nicht ansehen zu müssen. Um seine Wortlosigkeit nicht zu deutlich werden zu lassen. Seine Begierde nach dem unerreichbaren Mädchen neben ihm, die ihn zittern ließ.

Sie hielt sein Schweigen aus, die Bilder und Fragen, die er unterdrückte. Sie sah ihn nur an und verdrängte die nächtliche Flucht aus der Halle, die Schatten an den Straßenecken. Die Blicke der Patrouillen in Tempelhof, die von ihrem Übergriff sicherlich längst Kenntnis hatten. Sich ans Jetzt klammernd, las sie in ihm und ließ irgendwann, als sie sich zurücklehnte, wie zufällig ihr T-Shirt verrutschen. Wartete auf seine Blicke und zog ihn schließlich zu sich heran. Den blonden merkwürdigen Jungen, der sie in diesem Moment sogar die Trauer und ihre Panik vergessen ließ. Die Schärfe ihres Plans, die Hilflosigkeit ihrer Wut, die um das Scheitern ihrer Fragen wusste, aber nicht aufhören konnte, sie zu stellen. Sie nahm seine Hand, ließ sie auf ihren kleinen Brüsten zittern und für einen Moment sah sie das, was er sah. Fühlte, was er fühlte. Eine Trauer, die um so vieles älter war als ihre. So viel versteckter. Begraben unter all den Geschichten, die er darüber stapelte, obwohl er vorgab, sie freilegen zu wollen.

Alles, was das Mädchen im Leben hatte erreichen wollen, hatte sie bekommen, doch in diesem Moment gerieten Hierarchien und Forderungen durcheinander. Sie verlor ihre Bestimmtheit und bekam einen Jungen, den sie gar nicht wollte. Der sie nur leiten sollte und der nun auf ihre Lippen sank, um geleitet zu werden. An ihren Körper drängte, der zu nackt für Kalkül war, zu wild atmete für Überlegenheit. Sich in ihr Innerstes versenkte, das sie wie die Krypta der Halle zum Sperrgebiet erklärt hatte und in dem es nun wieder Verlangen gab. Die Bereitschaft, bis ans Ende zu gehen. Das Vergessen der Gewissheit, dass es kein Ende gab.

Lange lagen sie danach aufeinander. Levy hörte unter sich ihr Herz schlagen, spürte ihre Wärme und wollte nie mehr aufstehen. Erst als sie sich unter ihm regte, setzte er sich auf. Wissend, dass es nun kein Zurück mehr gab. Dass er ihren Pakt besiegelt hatte, obwohl es etwas in ihren Augen gab, das er nicht deuten konnte. Das verletzlicher war, als es sein müsste. Levy schob es auf die Trauer und sah weg, ehe er verrückt wurde. Verrückt vor Verlangen nach diesem Mädchen, das dort weiß und zerbrechlich vor ihm stand. Das ihn ansah, statt nach ihren Kleider zu suchen, bis er sie ihr schließlich reichte, obwohl er sie niemals mehr anders sehen wollte.

Nun stand er vor der Halle, sah in den Regen und sah nur sie und fühlte, dass er sie enttäuschen musste. Dass er ein Betrüger war, obwohl er mit keinem Wort etwas versprochen hatte und ihr trotzdem auf eine Weise erlegen war, die keine Zweifel mehr zuließ und die Frage nach Schuld und Versprechen nach anderen Regeln stellte. Er nahm ihre Hand und Elisa drückte sie. Gemeinsam traten sie hinaus in den Regen, die Stufen hinauf und an den CyCops vorbei, die an diesem Tag alle nur sie fixierten. Ihre Speicher erkannten Levy als denjenigen, der am Vortag die Beherrschung verloren hatte und während sie in ihn hineinsahen, atmete er tief ein, trat durch die Schleuse und konzentrierte sich auf all das Vertraute, als er in die Halle trat. Das Farbenspiel an den Wänden, die Luft, die sich im Surren der Stimmen mit etwas zu füllen schien, das unlesbar war und doch zu Gesang wurde. Zu einem Gesang, dem er die Bestimmung nahm, um frei für Bestimmungen zu werden und doch immer wieder zu dem Mädchen neben sich zurückzukehren, das sich zitternd an ihn klammerte. Zu der magnetischen Welle, der er unter ihr erlegen war, und die ihn immer noch mit sich riss. Tief hinein in Bereiche der Halle und in sich, die er sonst mied. In Bilder, die er noch nie gesehen hatte. In Dunkelheit und Rausch und noch mehr Süße. Federboas und Dandy-Tanz in den Schatten des Wilhelminischen Viertels. Goldene Salons und das Abgründige, was dahinter lag. Was hinter Tanz und dem Spiel der Band die Arme ausbreiten und verführen wollte. In die verschlungenen Gängen der Etablissements, in denen man Geheimnisse ließ.

Er sah die Nacktheit, die Ekstase der Leiber, und immer wieder dieses eine nur allzu vertraute Gesicht, mit Blut beschmiert wie die Fratze eines Clowns. Entstellt. Maskiert von Assoziationen und doch schmerzhaft deutlich, aber sofort bedeckt von anderen Ärschen. Verdeckt von lüsternen Leibern, die sich über sie beugten. So penetriert, dass ihre erstickten Schreie sich in ihn bohrten, bis er sich mühsam zu Elisa zurückkämpfte.

Er wähnte sie neben sich und wurde doch sofort wieder in die Nacht gespült. Trieb in Trance durch die dunklen Gänge des Sündenviertels, obwohl er nach anderen Wegen suchte. Obwohl er das Gesicht unter den Leibern gleichzeitig retten und nie mehr sehen wollte. Das von Schmerzen verzerrte Gesicht der Mutter, das er mit aller Macht verdrängte, um sich auf Elisas Vater zu fokussieren. Die erklärbare Grausamkeit seines Todes, die endgültig von anderen Bildern überlagert wurde, als er sich vom den Ruinen am Fluss löste und in dieses andere Zimmer trat. In das unfertige Boudoir in dem leeren Haus am Ende der verlassenen Straße, in dem die Musik aus dem uralten Grammofon in Endlosschleifen herumspukte. Zu der anderen Frau, die nicht die Mutter war, aber ebenfalls in ihrem Blut lag. Er hielt sich an ihrem Gesicht fest, weil er spürte, dass sie zu Brandt gehörte und ihr Gesicht ihn von der Mutter wegführen würde. Von ihrer Sünde zu einer anderen Gefahr. Zu dem, was in den dunklen Ecken des Hauses auf die verletzte Frau wartete. Von der Omnipräsenz des Todes, die ihm von einer Sekunde auf die andere das Bewusstsein raubte.