Heute gibt es kein allgemeines Update, sondern, wie versprochen, eine längere Kostprobe meines neuen Thrillers. Zur Entstehungsgeschichte habe ich hier schon einiges geschrieben. Nach dem ambivalenten Fokus auf die besondere Anlage meiner Metropolis-Thriller und der Erkenntnis, dass eine Handlung, die in einer (fiktiven) Zukunft spielt, das Marktpotential einschränkt, wollte ich mal einen „normalen“ Thriller schreiben. Ich habe ihn bewusst einfach gestrickt und gemerkt, dass ich im Kern wegen eben der Sachen schreibe, die ich nun herausgelassen habe.
Nachdem ich das verstanden hatte, bin ich viele Monate in mich gegangen, habe umgeplotet und einige Handlungsstränge dazu erfunden. In gewisser Weise war es ein Festival der Ideen und ich musste nach einer Zeit meine ganze Kraft drauf fokussieren, das Ganze trotz allem gewollten Konzeptwahnsinn (für eine breitere Leserschaft) fassbar zu halten.
Der Kampf dauert noch an, aber mittlerweile schlafe ich ruhig. Es geht gut voran und ab jetzt wird es leichter gehen. Ein Drittel ist lektoriert bzw. auf dem Weg, den Rest knüpfe ich mir nun vor.
Hier ist erstmal der (neue) Anfang. Viel Spaß! 😉
Marseille, Juli 2000
Renoir zog die schwarze Sturmmaske wieder über sein Gesicht und öffnete die hohe Flügeltür am Ende des Ballsaals. Im langgezogenen Gang dahinter führte, beschienen vom schwachen Silberglanz des gerade aufgegangenen Mondes, ein roter Läufer über den Marmorboden auf eine weitere Mahagonitür zu. Durch die Tür trat der schlaksige Junge mit den schwarzen Locken auf eine Empore, von der aus sich zwei Steintreppen zur prunkvollen Eingangshalle des Lustschlosses hinabwanden. Ein schneller Blick auf seinen 3D-Peilsender zeigte ihm, dass der Raum mit dem Geld und Schmuck schräg unter der Halle liegen musste, aber nirgendwo war ein Abgang zu entdecken. Während Renoir die Halle und die Seitenflügel noch nach versteckten Türen absuchte und dabei in alle Ecken und hinter die alten Gemälde sah, hörte er auf einmal Schritte.
Der Junge rannte zurück zur Eingangshalle des weitläufigen Lustschlosses und drehte sich einmal um die eigene Achse. Erst, als die Schritte sich schon bedrohlich näherten, fiel ihm ein, dass er oben bei der Empore an einer von Samtvorhängen verdeckten Nische vorbeigekommen war. Keine Sekunde zu früh rannte er die Treppe hinauf, versteckte sich hinter dem bodenlangen Stoff und hielt, an die Steinwand gepresst, den Atem an.
Renoirs Auftraggeber hatte keinen Hehl aus der intensiven Bewachung des Gebäudes gemacht, ihm aber versprochen, dass an diesem Tag insbesondere in der Zeit zwischen 23.30 und 0:30 Uhr ausgerechnet im sensibelsten Trakt alle Sicherheitsvorkehrungen auf ein Mindestmaß heruntergefahren sein würden. Obwohl der Mann angeblich den Drogenhandel in Marseille kontrollierte und 50 Prozent der Gewinne einstrich, kannten nicht einmal die angeseheneren Dealer seine wahre Identität – oder sie wollten sie nicht kennen. Alle nannten ihn nur den Mauren. Gerüchten zufolge war er einer der mächtigsten korsischen Paten, aber niemand wagte es, mehr als Andeutungen zu machen.
Die Korsen waren zu den goldenen Zeiten der »French Connection« weltberühmt geworden, indem sie andere kriminelle Organisationen, darunter die New Yorker Mafia, mit Heroin versorgt hatten. Schon seit den 20ern des vergangenen Jahrhunderts hatten sie durch geschickte Allianzen mit Politikern und skrupellosen Schlägertruppen die Macht in Marseille an sich gerissen, und trotz aller Umbrüche im internationalen Drogengeschäft saßen sie in Frankreichs Süden immer noch fest im Sattel.
Renoirs Cité war, wie fast alle Problemviertel der Stadt, vollständig in der Hand der Dealer. Niemand kam rein oder raus, ohne von ihnen registriert zu werden. Wegen seiner Akrobatik und seinem spektakulären Einbruch in eines der Strandkasinos von Nizza hatte Renoir als überaus brauchbares Talent schon länger im Visier der Gangs gestanden. In den letzten Monaten hatte er sich ihren Anwerbeversuchen nur noch dadurch entziehen können, dass er mit seinem Freund Fredo von zuhause ausgerissen war. Sie hatten in einem Zirkus Zuflucht gesucht und waren bei den Gauklern so sehr aufgeblüht, dass Renoirs Fluchtimpuls ihn im Stich ließ, als zwei mit Kapuzen vermummte Männer vor ihm auftauchten und ihn auf den Beifahrersitz einer großen Limousine stießen. Mit nur nachlässig unter dem Mantel versteckten Kalaschnikows ermahnten sie Renoir, dass sie ihn abknallen würden, wenn er auch nur versuchen würde, den Kopf in Richtung der Scheibe zu bewegen, die den vorderen und den hinteren Teil des Fahrzeugs voneinander trennte.
Nachdem der Mann auf der Rückbank mit kaum vernehmbarer Stimme sein Angebot samt Ultimatum unterbreitet hatte, rissen die Kapuzenmänner ihre Geisel sofort wieder aus dem Auto. Blass vor Wut sah der Junge ihnen nach, kaufte sich beim heruntergekommenen Bar Tabac an der Ecke einen Flachmann und stieg auf das höchste Dach der Cité. Stundenlang starrte er auf die fernen Lichter des Hafens, als müsste er von allem, was bisher gewesen war, Abschied nehmen. Immer wieder fragte er sich, ob er wirklich bescheuert genug sein würde, einen Job für diese schießwütigen Irren zu übernehmen, der verdächtig nach Falle roch. Aber welche Wahl blieb ihm schon? Der Mann hatte gedroht, auch seiner neuen Freundin Liza etwas anzutun, wenn er kniff oder versagte, und Renoir hatte keinen Zweifel daran, dass er damit ernst machen würde. Kurz überlegte er, alles hinter sich zu lassen und ohne die versprochene Rekordgage mit Liza abzuhauen, aber Liza war die Tochter eines Fernsehstars. Sie würde ihren Familienstammsitz in Boches-du-Rhônes wohl kaum gegen ein Rattenloch im Irgendwo einer ungewissen Fremde tauschen. Außerdem war der Maure bekannt für seine Rachegelüste. Spitzeln riss er persönlich die Zunge heraus, bevor er sie von seinen Lakaien mit Kugeln durchsieben ließ. Wie sollte ein Grünschnabel wie Renoir ihm entkommen, wenn er sich nicht einmal ein Fährticket leisten konnte?
Als die Sonne aufging und die Stadt zu seinen Füßen trügerisch schön in orangefarbenes Licht tauchte, rang Renoir die Zweifel nieder und entschied sich, seine Talente ein letztes Mal der dunklen Seite zur Verfügung zu stellen. Liza wirkte seit Tagen so verstört, dass die Sorgen um sie seine Angst überwogen. Beeinflusst von den Schikanen ihres gewalttätigen Vaters, zog sie sich jeden Tag mehr von der Welt zurück und sparte auch ihren Freund nicht aus. Renoir musste sie aus der Stadt herausbringen, ehe seine Befürchtungen wahr werden konnten und alles über ihnen zusammenbrach.
Renoir hatte kein Risiko gescheut, um etwas Sorglosigkeit in ihr Verhältnis zu bringen, und war nun dabei, alles zu verlieren. Die Schritte des Wächters kamen schnell näher und verklangen abrupt wieder. Obwohl sich das vermeintlich sichere Zeitfenster für seinen Raubzug weiter und weiter schloss, wagte Renoir es für Minuten nicht, sich zu rühren. Als er endlich um die Ecke sah, gewahrte er den schemenhaften Umriss seines Widersachers in etwa 15 Metern Entfernung. Der Mann stand abgewandt seitlich von Renoir, aber er hielt die Kalaschnikow erhoben und horchte in die Dunkelheit. Es war unmöglich, sich an ihm vorbeizuschleichen. Eine Flucht kam auch nicht in Frage. Renoirs einzige Hoffnung war, dass es – wie vom Mauren versprochen – unten im Gewölbe einen zweiten Ausgang gab.
Mit zitternden Fingern suchte er die Nische ab und fand tatsächlich eine verborgene Tür. Er schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Jedes Geräusch würde den Wächter alarmieren, und das Türschloss war zu allem Überfluss so raffiniert konstruiert, dass Renoir es nicht im ersten Anlauf aufbekam. Er bemühte sich, leise zu arbeiten, aber jedes kleine Kratzen kam ihm in der Stille entlarvend laut vor. Schweiß tropfte von seinen Schläfen auf die altehrwürdigen Steine, während er angestrengt in Richtung Flur lauschte. Der Junge setzte noch einmal an und fand endlich den richtigen Hebel. Nach einem leisen Klicken schob er vorsichtig die Tür auf.
Eine Steintreppe führte in fast vollendeter Finsternis in die Tiefe. Vorsichtig tastete er sich Stufe um Stufe hinab und erreichte schließlich ein gotisch anmutendes Steingewölbe, das von vereinzelten Fackeln erleuchtet wurde. Obwohl er es eigentlich in 17 Minuten aus dem Schloss herausgeschafft haben musste und er sich nicht sicher sein konnte, ob die Männer oben etwas gehört hatten, entschied sich der Eindringling, seine Mission zu erfüllen. Ein geisterhafter Singsang hallte von links durch den Gang. Renoirs Peilsender wies auf einen Raum im rechten Teil, der keine hundert Meter von seiner Position entfernt lag.
Noch einmal horchte er nach beiden Seiten und fragte sich, aus welchem Grund nahezu alle Wachen für eine Stunde von hier unten abgezogen worden waren, wenn es genau hier und jetzt so viel zu erbeuten gab. Der fremdartige Gesang jagte ihm eine solche Mordsangst ein, dass er kaum noch klar denken konnte, aber er zwang sich weiter. Das Licht der Fackeln reichte nur wenige Meter in die Finsternis. Aus den rauen, verwitterten Steinen, an denen er sich entlangtastete, drang der Modergeruch von fünf Jahrhunderten. Als Renoir den Punkt erreicht hatte, auf den der Peilsender verwies, zog er Blasrohr und Betäubungspfeile hervor und schlich auf die nächste Fackel zu. Die Wache dahinter schien ihn nicht bemerkt zu haben. Der Mann war schwer bewaffnet und hob sich mit seiner dunklen Montur im Gang so wenig von der Wand ab, dass Renoir ihn um ein Haar übersehen hätte.
Renoir führte das Blasrohr an die Lippen und senkte es wieder, weil seine Finger zitterten. Der Wächter sah in seiner stocksteifen Pose aus wie ein Elitesoldat, sein allzu voluminöser Oberkörper ließ auf eine schusssichere Weste schließen. Der Hals war das einzig aussichtsreiche Ziel für Renoirs Pfeil. Ein überaus riskanter Schuss, aber Renoir hatte sich bis auf wenige Meter an den Wächter herangeschlichen. Er musste es wagen.
Mit geschlossenen Augen beruhigte er seinen Atem und hob das Blasrohr wieder an den Mund. Bevor der Mann den Kopf drehen konnte, wurde er vom Betäubungspfeil getroffen und sank zu Boden. Als Renoir näher trat, sah er, dass der Wächter wie vermutet vor einer versteckten Steintür postiert worden war. Er zog den schweren Körper zur Seite und zog sein Werkzeug hervor.
In den letzten Tagen hatte er an historischen Schlössern geübt, keines war so schwer aufgegangen wie dieses. Lange Sekunden mühte er sich vergeblich ab, schließlich schaffte er es und gelangte in eine enge Kammer, die bis auf eine Gebetsnische mit Kniekissen und einem Marienbild leer war. Renoir fand den Safe hinter dem Bild in der hinteren Ecke. Der in die Wand eingelassene Klotz war alt, aber umso stabiler gefertigt. Es war unmöglich, in neun Minuten diesen Panzerschrank zu knacken und aus dem Schloss zu gelangen, aber der Junge hatte den Tanz eröffnet. Mit leeren Händen konnte er nicht zum Mauren zurückkehren.
Er hielt sein Stethoskop an das kalte Metall des Tresors, während sein Herz Paukenschläge in sein Ohr trommelte. Mit geschlossenen Augen drehte er das altmodische, metallene Rad am Safe hin und her. Schließlich schwang die Tür auf. Dicke Bündel an Geldscheinen und eine Sammlung an Ringen und Uhren von unschätzbarem Wert füllten den Safe. Renoir nahm die Geldbündel und legte den Rest mit aller Vorsicht, die ihm die Eile erlaubte, in seinen Rucksack. Bei der letzten Uhr wurde ihm auf einem Schlag schwindelig. Mühsam kämpfte er die Panik nieder. Es konnte sich eigentlich nur um eine Verwechslung handeln, aber selbst wenn das tatsächlich die Day-Date Rolex von Lizas Vater mit dem kleinen Kratzer über der Zahlenanzeige sein sollte, blieben ihm nur noch sechs Minuten. Der Maure hatte ihm eingebläut, dass er zusammen mit Liza auf dem Grund des Hafenbeckens landete, wenn er es nicht rechtzeitig aus dem Schloss schaffen würde, und der Junge fühlte sich eindeutig zu lebendig, um als Fischfutter zu enden.
Er setzte den Rucksack auf und eilte zur Treppe. Schon nach wenigen Stufen hörte er von oben schwere Schritte. Er rannte wieder hinunter und bog links in den Gang ein, der im Halbrund an kleinen Rosettenfenstern vorbei in die Dunkelheit führte. Als plötzlich markerschütternde Schreie ertönten, blieb Renoir stehen. Obwohl er am Lärm, der aus der Richtung der Treppe kam, erkannte, dass die Männer ihren bewusstlosen Kollegen und den leeren Safe entdeckt haben mussten, bremste er ab und sah durch eines der verzierten Fenstergläser auf einen Raum hinunter, der breit und lang wie das Kirchenschiff einer Kathedrale war. Im hinteren Teil standen vor einem Altar einige Männer, die nichts als riesige Rabenmasken zu tragen schienen. Aus seiner erhöhten Position konnte Renoir erkennen, dass sich ihre Blicke auf das Kreuz dahinter richteten, an das die Männer den zierlichen Körper eines Mädchens oder einer Frau geschlagen hatten. Einer der Maskierten verging sich gerade an ihr, während ihre Schreie ersterbend schwach zu Renoir hoch hallten.
Der Boden des Raumes und die vermummten Gestalten waren so von Rauch umhüllt, dass kaum Einzelheiten zu erkennen waren, aber der Altar mit dem Kreuz stand erhöht. Im Schein der Kerzen meinte Renoir einen Haufen enthaupteter Vögel und tönerne Schalen zu sehen, die mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt waren. Dazwischen lagen kleine Kärtchen, die mit ihren bunten Bildern an Tarot-Karten erinnerten.
Obwohl die Wachmänner hinter ihm die Verfolgung aufgenommen hatten, dauerte es wertvolle Sekunden, bis Renoir sich endlich losreißen konnte. Vor Panik und Schwindel hatte er weiche Knie bekommen, aber er rannte um sein Leben. Bald nahten auch von vorne Schritte. Er malte sich aus, wie ihn die Männer in den Gewölben dieses Teufelsschlosses ebenfalls kreuzigen würden, während Liza in ihrer luxuriösen Unterkunft auf Nachricht von ihm wartete. Immer schneller rennend verfluchte er sich für seinen Größenwahn und hatte gedanklich schon mit seinem jungen Leben abgeschlossen, als sich der Gang vor ihm urplötzlich teilte.
Der Junge schlug den rechten Weg ein und richtete schwer atmend seine Lampe nach oben, als der Gang in eine beeindruckende Gewölbehalle mündete. Er stand in einer Art Gruft, an deren Wänden riesige Särge aufgebahrt waren. Gegenüber vom Eingang ragte, umrahmt von zwei Säulen, eine mächtige Statue auf. Dank der Falten, die die Beinkleider dieses steinernen Wächters warfen, und der mit Wappen übersäten Säulen in dessen direkter Nachbarschaft schien ein Aufstieg nicht unmöglich zu sein. Renoir hoffte darauf, sich zwischen Säule und Statue zu klemmen und von der einen zur anderen zu wechseln, wenn die Verzierungen seinen Füßen auf beiden Seiten keinen Halt mehr boten, aber er würde sich den Weg einprägen und im Dunkeln klettern müssen. Ein gewagtes Unterfangen. Mittlerweile klangen die Schreie hinter ihm so, als verfolgte ihn eine ganze Heerschar.
Ohne weiter darüber nachzudenken, begann Renoir mit dem Aufstieg.
Le Parisien 01.02.2014
Leichenfund stellt Ermittler vor großes Rätsel
Schreckensfund im Bois de Vincennes. Der Hund eines Postbeamten fand gestern Nacht im Unterholz des Parks einen vergrabenen Koffer mit zwei zerstückelten Frauenleichen. Beide Köpfe und die Finger fehlten. An Füßen und Händen befanden sich Kreuzigungswunden. Die Soko »Koffermorde« hat die Ermittlungen aufgenommen.
Le Parisien 02.10.2015
Dritter Leichenfund. Ein Serienmörder im Raum Paris?
In einem Tunnel der seit fast 100 Jahren stillgelegten Eisenbahnlinie »Petite Ceinture« wurde gestern Nacht eine weitere Frauenleiche mit Kreuzigungsmalen gefunden. Bei nun drei Opfern vom mutmaßlich selben Täter drängt sich der Verdacht einer Mordserie auf. Die Polizei weist darauf hin, dass es noch weitere Opfer geben könnte und bittet die Bevölkerung um Vorsicht und Mithilfe.
Le Parisien 10.10.2015
Führen die Spuren der Mordserie nach Marseille?
Wenig beachtet warf gestern ein Blogger mit Netznamen Gizmo7 die Theorie auf, dass die aktuellen Koffermorde auf einen Kult zurückgehen könnten, der vor über 15 Jahren unter dem Namen KKX an der Côte d`Azur in Szenenkreisen für Aufregung gesorgt hatte. Angehörige der Eliten aus Sport, Politik und Wirtschaft sollen Prostituierte im Rahmen eines perversen Rituals an geheimen Orten gekreuzigt und vergewaltigt haben. Für Rückfragen war Gizmo heute morgen nicht mehr zu haben. Seine Seite war vom Netz genommen worden. Gerüchten zufolge hat er das Land bereits verlassen. Ein Polizeisprecher gab auf Nachfrage an, dass sich die Polizei bei ihrer Arbeit nicht von Verschwörungstheorien leiten lässt, schon gar nicht bei abstrusen Horrorgeschichten wie dieser.
Le Parisien 23.10.2015
Verhaftung! Der Schlächter ist der Koffermörder.
DNA-Spuren am Tatort führten die Ermittler zum vorbestraften Vergewaltiger Gérard B. (34), der in Marseille als »Der Schlächter« grausame Berühmtheit erlangt hatte, nachdem er mit dreizehn Jahren einem Hirsch den Bauch aufgerissen und ihn vor einem Ausflugslokal aufgehängt hatte. Wegen diesen und ähnlichen Verstümmelungen und einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung verbrachte B. Jahre in einer Jugendpsychiatrie, lebte danach aber unauffällig in Marseille und Paris. Nachbarn beschreiben ihn als zurückhaltend und seltsam. Drei seiner Nachbarn, die lieber anonym bleiben möchten, gaben an, dass sie schon vorher Angst vor ihm gehabt hätten. Einer meinte, B. habe wahrhaftig den Teufel im Leib.
Le Parisien 02.03.2017
Polizeiversagen. Schlächter-Monster frei. Oder doch unschuldig?
Sensation im Gerichtssaal: Freispruch für den Schlächter. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Mann vor seinem Geständnis von Hauptermittler Franc Baratte zusammengeschlagen worden war. Eine DNA-Probe erwies sich zudem als gefälscht oder verunreinigt. Aus Mangel an weiteren Beweisen wurde Gérard B. wieder auf freien Fuß gesetzt. Wurde einem Unschuldigen Gerechtigkeit gegeben oder ist die Bestie nun wieder unter uns? Baratte und sein Mitermittler Pierre-August »Renoir« El Kaliqui standen für einen Kommentar nicht zur Verfügung.
1. Einladung zum Mord
Paris Oktober 2017
Ruf aus der Vergangenheit (Renoir)
Benommen und mit dröhnendem Schädel wachte Renoir auf und versuchte sich zu erinnern, wie er auf den Fahrersitz seines Autos gekommen war. Er erinnerte, dass sein Partner Franc ihren Strafposten in der alten Präfektur am Quai des Orfèvres wie so oft schon bald nach Mittag aufgegeben und Renoir im leeren Gebäude alleine zurückgelassen hatte. Seitdem vor einigen Monaten der Prozess gegen den Serienmörder „Der Schlächter“ geplatzt war und die Hauptstadtpresse wegen angeblicher Beweismanipulation und sonstiger Vorwürfe von den beiden Hauptermittlern nur noch als »Schummelbullen« sprach, waren Franc und er von ihren Aufgaben entbunden worden und fristeten im kürzlich aufgegebenen Hauptquartier der Pariser Kriminalpolizei ihr unehrenwertes Exil. Offiziell waren sie damit beauftragt, Beschwerden über Polizeivergehen zu priorisieren und neue Ermittlungsansätze in ungelösten Fällen zu suchen. In Wahrheit lief alles darauf hinaus, dass sie weiter an den Pranger gestellt und gedemütigt wurden. Niemand interessierte sich für noch so brillante Ansätze zu den ungelösten Fällen. Stattdessen mussten sie beide in PR-trächtigen Bürgerstunden Rede und Antwort zu ausgewählten Polizeiübergriffen und Ermittlungsfehlern stehen, als hätten sie selbst sie begangen.
Als Franc an diesem Nachmittag in ihrem Büro mit grimmiger Miene seinen Stuhl geräumt hatte und nach einem knappen Nicken über den hallenden Flur der alten Präfektur gen Treppenhaus gestrebt war, hatte Renoir überlegte, ebenfalls nach Hause zu gehen. Seine Kopfschmerzen waren wieder einmal brutal gewesen und er hatte in den letzten Nächten kaum geschlafen. Zudem interessierte es niemanden, was sie außerhalb der öffentlichen Fragestunden machten. Trotzdem war er nur zum Kühlschrank gegangen, hatte ohne abzusetzen eine halbe Tüte Milch ausgetrunken und sich für eine kurze Kreativ-Siesta auf die Holzbank bei der Kaffeenische gelegt.
Das war das letzte, was er erinnerte. Nun saß er in seinem Auto und sah nicht weit entfernt die Tour Montparnasse hell erleuchtet in den Nachthimmel ragen, obwohl Renoir auf der anderen Seite der Stadt in Montmartre wohnte. Neben dem Auto stand sein Zaubertisch mit den silbernen Sternen, zu allem Überfluss trug Renoir sein Magierkostüm. Vielleicht hatte er für die Kinder der nahen Grundschule eine seiner Straßenvorführungen geben wollen, die er sich hin und wieder herausnahm, um seine Jugendträume von der Bühnenkarriere zu entstauben. Angesichts der späten Stunde war das eine reichlich bescheuerte Idee, aber wer wusste, wie lange er schon hier saß.
Stöhnend rieb er sich die Stirn. Wieder hatte er einen seiner Aussetzer gehabt und den Zugriff auf mehrere Stunden seiner Erinnerung verloren. Er konnte nackt auf den Tischen einer Kneipe getanzt oder all sein Geld in thailändischen Staatsanleihen angelegt haben, ohne dass er irgendetwas davon erinnerte.
Um den Zaubertisch bei der Hecke standen nun ein paar Flüchtlingskinder mit zusammengewürfelten Klamotten und sahen ihn erwartungsvoll an. Renoirs Kopfschmerzen waren noch stärker geworden und seine Arme schmerzten, als hätte er sich verausgabt. Trotzdem quälte er sich aus dem Auto und trat zu den Kindern. Vielleicht würden ein paar Zaubereinlagen und die überraschten Rufe aus dem jungen Auditorium ihn auf andere Gedanken bringen.
Während der Autolärm vom nahen Boulevard Pasteur zu ihm herüber hallte und vereinzelte Passanten mit gesenkten Köpfen durch den aufkommenden Nieselregen nach Hause eilten, ordnete Renoir seine Sachen. Er begann mit ein paar Standards, ließ Bälle und Münzen aus dem Nichts auftauchen und Sachen über den nassen Asphalt schweben. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Eltern der Kleinen sich unter den Bäumen des nahen Parks auf ihren Lagern aus Pappkartons aufsetzen und legte sich noch mehr ins Zeug. Er zauberte eine weiße Taube aus dem Hut und jonglierte mit Dolchen, die er alle mit einer kleinen Bewegung seines Armes im Ärmel verschwinden ließ, um sie als Bälle wieder herauszuschütteln.
Langsam kam er in Fahrt und schaffte es, sich in die Zeit seiner Jugend zurückzuversetzen, als der große Sandini im Zirkus Salema sein Mentor geworden war und weit mehr in ihm ausgelöst hatte als den Wunsch, seine Illusionen irgendwann auf die großen Bühnen der Welt zu bringen. Schon als Kind hatte er wegen seines Naturtalents in Sachen Akrobatik und Klettern im Fokus der Gangs gestanden. Er kam auf Aussichtsposten, die kein anderer der Späher erreichen konnte, und galt als Idealbesetzung für Einbrüche aller Art. Jahrelang bissen sich die älteren Dealer mit ihren Lockmitteln aus Geld, Mädchen und Unterhaltungselektronik an dem wundersamen Lockenkopf die Zähne aus, bis die beginnende Pubertät ihn verletzlich machte und Renoir als Teil einer Mutprobe in eines der Strandkasinos von Nizza einstieg. Als Beweis seiner Kühnheit entwendete er nur einen Talisman vom Schreibtisch des Managers und sagte allen, dass er für mehr nicht zur Verfügung stand, weil er andere Pläne im Leben hatte und nicht so enden wollte wie seine Brüder.
Daraufhin ließ ihn der schlimmste der Nachwuchsdealer halb tot schlagen und diktierte ihm in sein blutiges Gesicht, dass das nicht das letzte Wort war. Woche für Woche bezahlte Renoir fortan den Preis für seine Weigerung und Woche für Woche fiel es ihm schwerer, standhaft zu bleiben. Als dann sein Kumpel Fredo aus dem Kinderheim ausbrach und ebenfalls keinen Rückzugsort mehr hatte, willigte Renoir ein, mit ihm zu fliehen.
Renoir hatte nicht gedacht, dass sie mehr als ein paar Tage Abenteuer erwarteten, bevor sie sich beide dem Druck der Gangs beugten und ins Berufsleben einstiegen, aber als sie auf den Zirkus stießen, wurde Renoir sofort wie magisch davon angezogen. Hinter dem Zaun grasten Kamele und Lamas neben clownesken Stelzenmännern und jonglierenden Zwergen, und aus dem großen Zelt ertönte der Schrei eines Tigers. Ohne jegliche Hemmung schlich sich Renoir aufs Gelände, passierte Messerwerfer und muskelbepackte Artisten und schlüpfte unter der Zeltplane hindurch, hinter der der Große Sandini gerade für seine neue Entfesselungsnummer probte. Von der ersten Sekunde an waren die Jungs so begeistert, dass sie in ihrem Versteck hinter den Heuballen ausharrten und gebannt dem Mann zusahen, wie er in Ketten gelegt in seinem Bassin strampelte und es erst nach Minuten schaffte, die Schlösser zu lösen.
Sandini stieg aus dem Wasser und winkte in ihre Richtung. Sofort duckten sie sich tiefer ins Heu und sahen sich nach Personen um, die der unheimliche Magier mit der elfenbeinfarbenen Haut gemeint haben konnte. Als sie sich wieder trauten, in die Manege zu sehen, blickte er immer noch in ihre Richtung und gab ihnen Zeichen, näher zu treten.
Beide Jungen waren seit frühester Kindheit an die rauen Sitten ihres Viertels gewöhnt. Schon vor der letzten Eskalation waren sie fast wöchentlich von den Dealern verprügelt worden, aber als die beiden Jungen aus dem Versteck traten, starrten sie in den Sand der Manege, als könnten sie sich dort vor dem Magier verkriechen. Obwohl Sandini ihnen statt einer Strafpredigt Utensilien reichte und sie ihm bei der Probe seiner nächsten Nummer zur Hand gehen durften, dachten sie an eine ganz besondere Strafmission, die sie, angekettet in einem Fass voll Blutegel und Schlangen, den qualvollsten Tod sterben ließ.
Anstelle von verhängnisvollen Verwünschungen trug ihnen Sandini danach nur auf, die Ställe der Elefanten auszumisten, und versprach ihnen dafür eine warme Mahlzeit. Langsam wurde sie zuversichtlicher, doch das Gefühl, einer höheren Macht ausgeliefert zu sein, blieb. Der Magier hatte ihnen nicht eine einzige Frage gestellt. Er schien in sie hinein sehen und auch die dunkelsten Gedanken im Verborgenen ihrer überlebensgroßen Kinderwelten lesen zu können. Als er ihnen nach einem warmen Essen einen Schlafplatz im Heuschuppen des Winterlagers zeigte, witterten sie immer noch eine Falle. Die ganze Nacht wurden sie vom blassen Harlekingesicht des Magiers durch wilde Träume getrieben und litten am Morgen doppelt, weil Sandini die beiden müden Jungen, statt sie zu verzaubern, den ganzen Tag schuften ließ.
Schnell erkannte Sandini Renoirs Talent und baute ihn immer mehr in seine Nummern ein. Renoir riss immer wieder aus, um mit den Akrobaten zu trainieren und für eine seiner gewagten Klettermissionen auf Häuser zu steigen, aber er blieb fokussiert und machte herausragende Fortschritte. Als Renoir während einer Weihnachtsshow das blonde Mädchen an der Popcorn-Maschine entdeckte und sich sofort so sehr in sie verliebte, dass er ihr nach Hause folgte, konnten nicht einmal Sandinis Manipulationskünste verhindern, dass der junge Luftikus von seinen Träumen fast aufgezehrt wurde.
Als letztes Mittel sorgte Sandini dafür, dass Liza öfter in den Zirkus kam und der junge Romeo seine Bemühungen auf der Bühne wieder intensivierte, um sie zu beeindrucken. Eine Zeitlang lief alles gut, und da Renoir eines Sommers in eine verlassene Villa einbrach, das ganze Haus mit Kerzen ausstaffierte und mit einem romantischen Essen im Atrium wider alle Erwartung Lizas Herz gewann, sah es sogar nach einem Happy-End aus – bis sich mit der einen entgleisten Nacht alles in Luft auflöste.
Nach Renoirs Flucht von Marseille nach Paris hatte es zu sehr weh getan, seinen alten Träumereien und Karrierewünschen nachzuhängen, um wirklich ernsthafte Versuche zu unternehmen. Er machte seinen Schulabschluss nach und schaffte es nach langem Kampf um Normalität, bei der Polizei aufgenommen zu werden. Seitdem hielt er nur noch Kontakt zu seinen Träumen, indem er sie ab und zu, meist vor Straßenkindern oder in Waisenhäusern, wieder auferstehen ließ.
Es war traurig, so wenig vom alten Glanz behalten zu können, dennoch war es immer schön, diesen kleinen Menschen Freude zu schenken und sich für Momente an das zu erinnern, was er einmal für sein Leben gehalten hatte. Auch an diesem Tag linderte der Rollenwechsel vor den Flüchtlingskindern seine Kopfschmerzen. Die Kleinen waren so begeistert, dass ein paar sauer erbettelte Münzen in den Hut klimperten, den Renoir am Ende durch ihre Hände gleiten ließ. Er riskierte dieses Ritual immer, weil es irgendwie dazugehörte und er längst einige Scheine in den Jackentaschen der Kleinen deponiert hatte, die ihre Investition in das Unterhaltungsprogramm des fremden Magiers ums Vielfache aufwogen.
Nach einer letzten Zugabe, baute er den Tisch ab und ging mit seinem Hut zum Auto. Als er die Münzen aus dem Hut klaubte, entdeckte er darin einen kleinen Zettel. Er hatte nicht bemerkt, dass einer der Jungen ihn hineingelegt hatte, aber Renoir war anfangs auch nicht sehr aufmerksam gewesen. Nachdem er den Tisch im Kofferraum verstaut hatte, rollte er den Zettel auseinander und zog überrascht die Stirn in Falten. Die Schrift auf dem Zettel ähnelte seiner, und die Worte, die er darauf las, raubten ihm den Atem.
Die ganzen Jahre hatte er damit gerechnet, dass der Albtraum seiner Jugend irgendwann eine Neuauflage erleben würde. Nun war es, als hätte er mit seiner kleinen Zaubershow die Geister der Vergangenheit geweckt. Nervös sah er sich um. Die Bäume des nahen Jardin Pierre-Adrien-Dalpayrat wogten im Nachtwind, mittlerweile waren nicht einmal Passanten zu sehen. Nur die Flüchtlingsfamilie sah von ihrem Nachtlager unter den Bäumen zu ihm hinüber, als warteten sie neugierig auf eine Reaktion.
Kurz dachte Renoir daran, sie zur Rede zu stellen. Er neigte von Haus aus zu Paranoia, und seine Aussetzer waren in dieser Hinsicht keine Hilfe, aber die Kleinen als geheimnisvolle Botschafter des Mauren anzusehen, die eine späte Rache für sein Versagen im Schloss ankündigen sollten, war selbst für ihn zu viel der düsteren Spekulation. Warum sollte der Maure auch nach all den Jahren sein Interesse für ihn wiederentdecken? Wie sollten die Kleinen außerdem einen Zettel in seiner Schrift verfassen können und von einer Sache Kenntnis haben, die passiert war, als ihre Eltern noch halbwegs friedlich in einem syrischen Dorf ihrem Handwerk nachgegangen waren?
Noch einmal zog Renoir den Zettel hervor und bemühte sich vergeblich, ihn für einen Scherz zu halten. Jemand bezog sich auf den gefährlichsten Teil seiner Vergangenheit und lud ihn zu einem nächtlichen Treffen auf den Cimetière de Montrouge ein. Er musste wirklich wahnsinnig sein, wenn er dieser Aufforderung Folge leistete.
Als könnte das den Spuk bannen, drehte Renoir den Zündschlüssel und beschloss, endlich nach Hause zu fahren, lenkte den Wagen jedoch wie fremdgesteuert stadtauswärts.
Auf frischer Tat (Franc)
Lieutenant Franc Baratte presste die zierliche Schwarzhaarige mit aller Kraft an die Wand und presste ihr die Arme so hinter den Rücken, dass er sie mit einer Hand festhalten konnte. Sie wand sich, schnappte nach ihm und dachte erst daran, zu schreien, als er ihr seine Pranke auf die bebenden Lippen presste. Blitzschnell zog er sein Messer und hielt es ihr an die Kehle. Er weidete sich am panischen Flackern in ihren nussbraunen Augen und leckte schamlos den Angstschweiß von ihren Lippen, während sie auf einmal wie gelähmt vor ihm stand. Mit der freien Hand griff er in die Tasche seines Armani-Anzugs und hob den langen Eisennagel, presste seine Hüften gegen ihren Schritt und ließ den Nagel für den fatalen Streich, der seit den ersten unbeholfenen Versuchen in seiner Jugend das blutige Ritual einleitete, auf ihren bebenden Hals niedersausen.
Ein von lähmender Panik gedämpfter Schrei erfüllte das Zimmer, als Tiara unter ihm zusammensank. Franc war wie im Rausch. Alles war so perfekt, wie er es sonst nie hinbekommen hatte. Trotzdem störte ihn etwas daran. Es war der Schrei. Er kam nicht von Tiara, sondern hallte aus dem Hof durch das offene Fenster des Bordellzimmers. Tiara schien in den Seitenstraßenbordells des Boulevard de Clichy zu sehr an solche Schreie gewöhnt zu sein, um darauf zu reagieren. Auch sie hatte gemerkt, wie gut sie die gespielt hatten und bückte sich bereits nach dem Drehbuch, um die nächste Szene ihres Trailers in Angriff zu nehmen. Franc war aber trotz des demütigenden Karriereknicks der letzten Monate zu sehr Polizist, um an der Panik in der Stimme vorbei zu hören. Auf keinen Fall war das ein Lustschrei oder Teil eines Spiels. Echte Todesangst hatte daraus gesprochen. Genau wie damals, als Flaneure im Bois de Vincennes eine Frau mit zerrissener Kleidung aufgefunden hatten, die gerade der Folterhöhle des Schlächters entkommen war, und immer noch nichts als schreien konnte, als Franc und Renoir am Ort des Geschehens aufgetaucht waren.
»Woher kam das?«, fragte er, fuhr sich durch die straßenköterblonden Haare und griff nach seiner Jacke.
»Wahrscheinlich aus dem Hof«, antwortete sie ohne aufzusehen. »Vom Zimmer der Neuen.«
»Ich kümmere mich direkt darum«, sagte Franc schon von der Tür. »Finde so viel raus, wie du kannst.«
Tiara schaute ihn entgeistert an, das Drehbuch des Schlächter-Trailers, mit dem sie nach gescheiterter Hollywoodkarriere in jungen Jahren nun Gelder akquirieren und den späten Durchbruch in heimischen Gefilden schaffen wollten, noch immer in der Hand.
»Falls ich zu spät komme», schob Franc nach und schlüpft auf den dunklen Flur. Er ging durch ein Sonnenstudio auf die Straße, eilte um die Ecke in eine Bar und lief die Treppe hoch. Das Licht roter Plüschlampen fiel aus den Zimmern in den schummrigen Laufhausgang, der hinter der Tür lag. Franc kannte fast alle Damen, die in Dessous und Strapsen auf Barhockern vor ihren Zimmern saßen und auf Freier warteten, weil er fast täglich mit Tiara probte und am Drehbuch feilte.
Franc hatte Tiara vor über 15 Jahren kennengelernt, als er direkt nach Abitur sein letztes Geld in ein Flugticket umgesetzt hatte und nach Kalifornien geflogen war. Damals hatte er seine Zeit tagsüber in den Fitnessstudios am Sunset Strip oder den langen Schlangen zweitklassiger Castings verbracht und es ganze zwei Mal geschafft, in Gangsterstreifen für eine Gage von jeweils 100 Dollar dem großen Boss die Limousinentür öffnen zu dürfen.
In der Folgezeit hatte er versuchte, sich auf der Schattenseite der Träume einzurichten und wenigstens einen Job als Barmann zu bekommen, war aber nach zwei Stationen als Parkplatzwächter zwischen Crackstrich und heruntergekommenen Sozialwohnblöcken als Türsteher im Rainbow Club gelandet. Tiara hatte damals eines der inoffiziellen Hinterzimmer des Rainbow betrieben und hatte es besser verkraftet, dass die Wege zu Rampenlicht und Gloria zu lang waren, um von bloßem Willen und etwas störrischer Ausdauer besiegt zu werden. Anfangs hatte sie ihn für sein Verbissenheit geneckt und nicht ernst genommen. Nachdem Franc sie zwei Mal von zugekosten Spinnern befreit hatte, hatte sie sich zunehmend mit dem naiven Muskelpaket angefreundet und war schließlich sogar gemeinsam mit ihm in die alte Heimat Paris zurückgekehrt.
Eine Zeitlang hatten sie sich aus den Augen verloren, aber seitdem Tiara Franc zu Sonderkonditionen ein Zimmer in ihrer Touristenabsteige in Montmartre vermietete und seine Karriere als Polizist so sehr den Bach hinuntergegangen war, dass er reinen Gewissens unzählige Stunden in ihrem Etablissement verbummeln und an der Neuauflage ihres Traumes arbeiten konnte konnte, sahen sie sich fast täglich.
Franc hatte den Produzenten nie kennengelernt, der Tiara das Blaue vom Himmel versprach und glaubte nicht mehr an Märchen, aber er liebte es mittlerweile zu schreiben und mit Tiara zu proben. Und in gewisser Weise liebte er Tiara, obwohl das viel zu kompliziert war, um es sich einzugestehen.
Obwohl Baratte fast nie auf ein Angebot einging, genoss er es normalerweise, von den Damen im Gang umgarnt zu werden. An diesem Tag ignorierte er ihre aufreizenden Gesten und beschleunigte fokussiert seine Schritte. Daniela am Ende des Ganges hatte den schwarzen Gürtel im Judo. Sie hatte schon einmal versucht, ihn per Armwurf kostenpflichtig auf ihre frisch desinfizierte Venusfalle zu befördern und wenn er die Schreie richtig gedeutet deutet hatte, ging es um Sekunden. Eine Gefahrensituation war für einen wie ihn genau die richtige Medizin gegen die Langeweile und die Scham, die ihm seit Monaten die Luft abschnürte. Über die Jahre hatte er einige Ordner im Regal der Polizeipsychologin gefüllt, die seine waghalsigen Alleingänge dokumentierten. Mehr als einmal hatte er vor der endgültigen Verhaftung noch eine Schlägerei provoziert, um Dampf abzulassen und dem Erfolg die Krone aufzusetzen. Obwohl ihm in dieser Hinsicht kein schwerwiegendes Dienstvergehen angelastet werden konnte, hatte ihn die innere Abteilung zu aufwändigem Anti-Aggressionstraining verdonnert und sich die moralinsauren Zähne an ihm ausgebissen.
Franc und Renoir hatten oft in Grauzonen operiert, durch den Schlächter-Skandal hatten sie die maximal erniedrigende Quittung dafür bekommen. Ihr Chef Ducart hatte alle Tricks angewendet, um ihnen die komplette Suspendierung zu ersparen, ihnen aber eingebläut, dass beide auch nur bei der kleinsten Überschreitung ihrer neuen Befugnisse nicht mehr zu retten sein würden. Wenn man aber in einem Puff voll hartgesottener Damen derartige Panikschreie vernahm, musste es sogar einem gefallenen und ausgemusterten Polizisten erlaubt sein, die Initiative zu ergreifen, dachte Franc und trieb sich innerlich zu noch mehr Eile an.
Er lief die Treppe hinunter und eilte über den Hof. Als ihm ein glatzköpfiger Zuhälter den Weg versperrte, zog er seinen Dienstausweis und schlüpfte kommentarlos vorbei. Auch dem Stiernacken vor der Zimmertür machte er mit dem erhobenem Ausweis und einer ausladenden Bewegung zu seinem Waffenholster klar, dass er nicht zu Diskussionen aufgelegt war.
Im Zimmer saß eine der ganz Neuen im Bademantel auf einem pinken Bett in Herzform. Sie sah südländisch aus und schien nicht älter als zwanzig zu sein. Die Frau versuchte, abgebrüht zu wirken, aber ihre Finger zitterten, während sie die linke Hand immer wieder zu den überschminkten Lippen führte.
»Was ist hier passiert?«, fragte Franc und bemerkte erst jetzt die Blutspuren an ihrem Hals. Die roten Schlieren erinnerten ihn sofort und aufs Eindringlichste an den Schlächter. Vor Anspannung ballte er beide Fäuste, sein Instinkt hatte ihn dieses Mal anscheinend nicht im Stich gelassen.
»Das erzähle ich lieber der richtigen Polizei«, sagte die Frau und pustete den Rauch in Richtung der Dildolampe auf dem Nachttisch. Franc wusste, dass alle sein Bild aus der Zeitung kannte und er ihr mit seiner einstigen Paraderolle des authentisch Ahnungslosen gar nicht erst zu kommen brauchte. Seit die Verhaftung des Schlächters aus ihnen für einige Zeit zum Helden gemacht und die Schmach des geplatzten Prozesses sie zwei Jahre später allseitiger Häme ausgesetzt hatte, kannte jeder in der ganzen «Grande Nation« ihre blöden Fressen. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen.
Franc trat zum Fenster und horchte nach Sirenen. Es war nur eine Frage von wenigen Minuten, bis die erste Streife auftauchen und das Feld für Commandant Lagarde und seine Speichellecker bereiten würde.
»Jetzt hör mal zu, Zuckerhäschen«, sagte er und drehte sich zu ihr um. Die ganze Zeit hatte sie versucht, die Fassade zu wahren, aber nun war ihr Kajal um die Augen verschmiert und ihre Lider zuckten. «Ich kenne genug Leute bei der Gewerbeaufsicht, die für die Dinge, die hier laufen, die ganze Belegschaft in den Knast stecken können. Wie du so schön angedeutet hast, habe ich wenig zu verlieren. Reiz mich lieber nicht!«
Als könnten ihre braunen Locken sie vor seinen Fragen schützen, hielt sie den Kopf gebeugt. Franc ließ nicht locker.
»War es so, dass dich jemand angefallen und dich mit einem Messer ins Zimmer bugsiert hat, während du seinen Ständer an deinem Po gespürt hast?«, fragte er und frohlockte innerlich, als sie nickte. »Wo?«
»Im Hof. Der wollte mich erst zur Straße ziehen, aber dann war da Lärm. Also hat er mich zurück ins Zimmer gedrängt.«
»Wie sah er aus?«
»Keine Ahnung, der hat mir doch die Augen verbunden.«
»Nur das?«
Widerwillig lüftete sie ihren Bademantel und gab die Sicht auf ein paar blutverschmierte Wunden oberhalb ihrer Brüste frei, die mit etwas Fantasie tatsächlich an die Opfer des Schlächters erinnerten.
»Warum hat er aufgehört?«
»Im anderen Zimmer gab es auch Lärm, das hat ihn wohl wieder gestört.«
»Und vor seiner Flucht hat er sich an dir vergangen und dich dabei mit seinem Messer bearbeitet?«
»Er hat es versucht. Wahrscheinlich hat er das mit dem Messer veranstaltet, weil er keinen hochbekommen hat. Dabei hat er mich so ans Bett gefesselt, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte.«
»Und du hast wirklich nichts von ihm gesehen?«
Die Frau drückte ihre Zigarette aus und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Er war maskiert und hat sich immer hinter mir gehalten. Er war groß und hatte einen arabischen Akzent. Wie die Typen im 93. Département.«
Franc hasste die plötzliche Überheblichkeit in ihrer Stimme. Weil er sich die kriminell hohen Mieten in der Stadt nicht mehr leisten konnte, hatte er lange Jahre selbst an der Porte de la Chapelle im 93. Département wohnen müssen, bis Tiara ihm einen Ausweg gewiesen hatte. Er wusste, wie es war, wenn niemand um einen herum noch geradeaus französisch sprach. Von einer wie ihr wollte er sich trotzdem nicht von oben herab behandeln lassen. Außerdem erinnerte alles an der Tat an den Schlächter und Franc war ihm auf den Fersen. Das war die Chance, auf die er schmerzhaft lange Monate gewartet hatte.
Er stand auf und ging erneut zum Fenster, dann suchte er das Zimmer ab. Am Schrank neben der Tür lag ein Zettel mit arabischen Schriftzeichen auf dem Boden.
»Was steht da?«, fragte er und hielt der Prostituierten den Zettel vor die Nase.
»Bin ich Fatima, oder was?«
»Tu nicht so«, sagte Franc und hoffte, dass die Frau die leisen Sirenen in der Ferne überhörte. Er zog zwei Scheine hervor und wedelte damit vor ihren Gesicht herum. »Ich kann auch anders, also spuck’s aus.«
»Da steht nur ein Name«, sagte sie und steckte die Scheine ein. »Der ist aber so brisant, dass du noch zwei von den Lappen abdrücken musst, damit ich den rauslasse.«
Rendez-vous mit den Toten (Renoir)
Dichter Regen flutete mittlerweile die Windschutzscheibe, als Renoir sein Auto vor dem Friedhofstor stoppte. Aus dem Augenwinkel verfolgte er eine Ratte, die entlang der Steinmauer um das Grabfeld lief. Auf einmal meinte er bei den Baggern auf der anderen Straßenseite am Eingang zum Square du Serment-de-Koufra eine weitere Bewegung gesehen zu haben. Obwohl es ihm so vorkam, als habe sich jemand vom vollkommen dunklen Park zur Baustellenbegrenzung am Friedhof geschlichen, widerstand er dem Impuls, sich auf dem Fahrersitz umzudrehen. Die Bettler, die gemeinhin im Park nächtigten, waren von der harmloseren Sorte. Wenn sie ein Auto aufbrachen, suchten sie nach Geld oder Essen, und die meisten waren nicht einmal dazu in der Lage. Anstatt dem einsamen Besucher vor dem Friedhof aufzulauern, hatten sich alle sicherlich schon unter den Klettergerüsten oder den Wartehäuschen an der Porte d’Orléans auf der anderen Parkseite verkrochen.
Als ein Blitz für den Bruchteil einer Sekunde die wogenden Bäume abseits der Straße in grelles Licht hüllte, zog Renoir erneut das Schreiben hervor.
Zeit heilt Schuld, aber sie tilgt sie nicht, egal wie weit man davonläuft. Heute Nacht trifft der Fliehende am Cimetière de Montrouge auf seine Vergangenheit.
Die Zeit der Abrechnung ist gekommen.
Auch nach mehrmaligem Lesen konnte er sich keinen Reim darauf machen. Er betrachtete den Zettel aufmerksam von allen Seiten und lehnte sich auf dem Fahrersitz zurück. Gedankenverloren strich er sich die schwarzen Locken aus der Stirn und betrachtete sich selbst im Rückspiegel. Die Augenringe höhlten sein fein geschnittenes Gesicht aus, aus dem die orientalisch Nase wie der Keil eines Tomahawks hervorragte. Sein Vater hatte sein halbes Leben in den Armenvierteln des marokkanischen Saleh verbracht und seinen Existenzkampf samt Trinkerkarriere Mitte der 80er nach Frankreich verlegt. Renoir war in Marseille geboren worden und hatte seine französische Identität schon als Kind so ausdauernd betont, dass seine Freunde gar nicht anders konnten, als dem selbsternannten Biofranzosen einen astreinen französischen Spitznamen zu verpassen. Allen Integrationsbemühungen zum Trotz lagen Renoir die Abenteuerlust und die Improvisationskunst seiner beduinischen Vorfahren im Blut. In seiner frühen Jugend hatte er kein Abenteuer ausgelassen und sich in aberwitzigen Klettermissionen mehrfach in Lebensgefahr gebracht. Jahrelang hatte er die schwierigsten Dächer erklettert, um durch verstohlene Fensterblicke Anteil an der Normalität der anderen zu nehmen, um bei der Beobachtung von Liza alle Register zu ziehen. Oft genug hatte er sich selbst für seine Rastlosigkeit verflucht, aber wieder einmal konnte er nicht anders: Er musste herausfinden, wer die geheimnisvolle Person war.
Als ein weiterer Blitz die Dunkelheit zerriss und fast unmittelbar ein hässlicher Donner folgte, sah Renoir sich nach allen Seiten um. Der Cimetière de Montrouge lag am äußersten Rand von Paris direkt an der Stadtautobahn. Über die Mauer an der Périphérique ragten einige abgedunkelte Bürogebäude auf, dahinter begann für jeden echten Pariser das Niemandsland der Vorstädte. Es gab genügend vernünftige Argumente, einfach den Zündschlüssel umzudrehen und wieder nach Hause zu fahren.
Der Ermittler überlegte, ob vielleicht einer seiner Informanten einen absonderlichen Weg gewählt hatte, um ihm Neuigkeiten zu überbringen. In den letzten Jahren hatte er einige der kleineren von ihm gefassten Delinquenten nicht der Justiz übergeben, sondern sie sich als Informanten am ausgestreckten Arm gehalten. Es kam vor, dass eine dieser lichtscheuen Gestalten auf besonders kreative Methoden zurückgriff, um ihn über neue Entwicklungen im Untergrund zu informieren. Was aber sollte ein Pariser Dealer oder Kleingangster mit seiner Vergangenheit zu tun haben? Wie sollte jemand auf ein Verbrechen anspielen können, das siebzehn Jahre zuvor in der Abgeschiedenheit eines Châteaus bei Marseille verübt worden war, wenn er nicht Teil davon gewesen war?
Unfähig weiter im Nebel zu stochern und damit seinen Kopfschmerzen Vorschub zu leisten, stieg Renoir aus. Die Bäume wogten unvermindert wild im Wind, aber wenigstens war der Regen schwächer geworden. Durch einen Spalt im Friedhofstor erblickte er einen schwachen Feuerschein auf der anderen Seite. Er verharrte gebückt, bis ein Auto auf der Avenue de la Porte-de-Montrouge vorbeigefahren war, dann stemmte er sich am Tor hoch und landete leichtfüßig auf der anderen Seite. Sofort drückte er sich in die Schatten des Pförtnerhauses und sah sich um. Am Eingang zur Krypta stand ein Opferlicht. Es schien auf die unterirdische Trauerhalle zu verweisen, aber das schwere Gittertor war verschlossen. Renoir überlegte, es aufzustemmen, dann erblickte er an der ersten Abzweigung ein weiteres Licht.
Mit der Hand an der Waffe rückte er vor und folgte dem Gang zwischen den Grabsteinen und Standbildern zu weiteren in auffälliger Regelmäßigkeit entzündeten Opferlichtern, bis die Spur am Eingang zu einer großen Gruft zu enden schien. Eine Weile suchte er zwischen den umliegenden Gräbern. Dass er kein weiteres Licht fand, konnte bedeuten, dass der Unbekannte von ihm verlangte, in die Gruft zu steigen. Im Schein seiner Taschenlampe blickte er durch die Tür auf alte Blumengestecke und einen Polsterstuhl, der so aussah, als würde er bei der leisesten Berührung zu Staub zerfallen. Der Grabstein verwies auf eine Familie, deren Namen er noch nie gehört hatte. Da drinnen warteten nichts als vertrocknete Blumen und Gebeine, keine zehn Pferde würden ihn in dieses Totenloch kriegen.
Als er sich zum Gehen wandte, fiel ihm der kreisrunde Gulli neben der Gruft auf. Der erste Eindruck trügte nicht. Der Deckel war tatsächlich ein paar Zentimeter neben das Loch verrückt worden. Renoir trat näher und schob den Deckel ganz zur Seite. Unter ihm öffnete sich ein Schacht, der so weit in die Tiefe reichte, dass das Grablicht auf dem Grund nur zu erahnen war. Noch einmal sah Renoir sich um und kämpfte seinen Fluchtimpuls nieder, dann steckte er seine Waffe ins Holster zurück und begann die eisernen Stiegen hinabzusteigen.
Nur mühsam konnte Renoir im engen Schacht unter der Gruft die Panik zurückdrängen. Mittlerweile hielt er es für möglich, dass oben zwischen den Grabsteinen Häscher des Mauren lauerten, die den Schacht jederzeit wieder verschließen und ihn hier unten elendig verenden lassen konnten. Seine Fantasie war nun endgültig von der Leine gelassen. Ihm war es, als reckten sich die Teufelskrallen der Rabenmänner aus dem Schloss in der Finsternis nach ihm, während ihr Gemurmel aus der Tiefe des Schachts zu ihm herauf drang. Er sagte sich, dass seine Nerven ihm einen Streich spielten und kletterte ein paar Stufen weiter hinunter. Auf einmal meinte Renoir, irgendwo dort unten eine Frau schreien zu hören. Wie gebannt hielt er den Atem an, krallte sich an die Eisensprossen und horchte in die Finsternis. Die Schreie waren verklungen, und das Gemurmel klang nun wie eine Wasserpumpe. Renoir bemühte sich festzustellen, ob jemand den Kanaldeckel wieder vor die Öffnung geschoben hatte, aber alles über ihm war ununterscheidbar schwarz. Immer mehr kam es ihm so vor, als würde er auf unausweichliche Weise in eine Falle gelockt werden, trotzdem stieg er weiter hinab und erreichte nach einer Weile einen mannshohen Tunnel, der wie ein Bergwerksschacht in die Erde gehauen worden war.
Renoir hatte gehört, dass ein Teil der berühmten Pariser Katakomben bis an die Périphérique reichte. Die Gänge waren entstanden, als ab dem 12. Jahrhundert vermehrt die Baumaterialien für die Häuser und Prachtbauten nicht mehr aus offenen Gruben, sondern aus Stollen unter Tage gewonnen wurden. Alle Pariser Bezirke – abgesehen vom 1. und 4. – waren seitdem von einem weitläufigen Netz dieser Stollen durchzogen, das in den folgenden Jahrhunderten in Vergessenheit geriet. Erst als in den 1770er Jahren ganze Straßenzüge im Erdreich verschwanden, entdeckte man die Stollen wieder und sicherte sie so gut es ging ab. Weil Seuchen und Hungersnöte Ende des 18. Jahrhunderts die Pariser Friedhöfe zum Überquellen brachten, wurden die Leichen nach und nach in die Stollen umgelagert. Mit der Zeit gelangten so die Gebeine von über sechs Millionen Menschen unter die Stadt, darunter Berühmtheiten wie der Architekt der Stollen und Künstler wie Lully. Da er wusste, dass das Zentrum der alten unterirdischen Steinbrüche Petit-Montrouge war, überraschte es Renoir nicht, dass sich auch unter dem Cimetière Stollen mit Gebeinen befanden. Er hätte sich allerdings nie träumen lassen, einmal alleine in diesen abgelegenen Teil des Gängesystems unter der Stadt hinabzusteigen.
Mit seiner Taschenlampe leuchtete er voraus. In einer Nische waren mehrere Totenköpfe zwischen größere Knochen gequetscht, die wie die Überreste von Unterschenkeln aussahen. Er leuchtete in weitere Nischen, um sicherzugehen, dass niemand ihn von dort aus beobachtete, gab aber schnell auf. Es war unmöglich, alle Schatten und Abzweigungen im Blick zu behalten.
Noch einmal horchte der Ermittler auf die Schreie der Frau, die er eingangs gehört zu haben meinte. Als er wieder nur die seltsamen Pumpgeräusche hörte, machte er sich auf den Weg und hielt an einer Gabelung an. Der Gang, der rechts vom Hauptschacht abging, war niedriger und mündete in eine kleine Höhle. Ein weißes Kreuz thronte an der Wand zwischen Gebeinen und Totenschädeln, davor standen drei verwitterte Holzsärge. Renoir trat näher und legte seine Taschenlampe auf einen Grabstein. Es war Wahnsinn, sich in dieser Finsternis so schutzlos zu exponieren, aber er brauchte beide Hände, um den ersten Sargdeckel aufzubekommen. Noch einmal atmete er tief durch und wappnete sich dafür, von einem Rudel Ratten angesprungen zu werden. Dann schob er den Deckel zur Seite.
Er leuchtete in den Sarg, der mit violettem Samt bezogen, aber ansonsten leer war. Alles stank bestialisch nach Patschuli und Verwesung. Auch in den beiden anderen Särgen fand er neben zwei Kondomen nur verwelkte Lilien und ein paar Totenköpfe. Renoir wischte sich den Schweiß von der Stirn und leuchtete die Höhle ab. Ein enger Gang führte auf der anderen Seite in die Tiefe der Katakomben, aber Renoir entschied sich, die Höhle nicht weiter zu inspizieren, sondern dem Hauptschacht zu folgen.
Mit abgedunkelter Lampe tastete er sich vor. Als von einem kreisrunden und von Steinsäulen gestützten Raum auch links und rechts Gänge abgingen, entschied er sich, geradeaus dem Hauptgang zu folgen. Mit jedem Schritt wurde er nervöser und dachte daran, wie er den Kollegen seine Situation erklären sollte, ohne sich so verrückt zu fühlen, wie er es in ihren Augen ohnehin schon war. Seinen Partner Franc mochte er in so einer Nacht nicht um sich haben, und ihr Chef, Ducart, war Familienvater. Zudem konnte es für Renoir fatal enden, wenn die ganze Angelegenheit tatsächlich auf einen seiner Informanten zurückging und die nächtliche Aktion zu indirekt zu seiner Enttarnung führte. Er konnte sich keinen weiteren Ärger leisten.
Der starke Regen musste weiter stadteinwärts einige der Tunnel geflutet haben, aber dieser Teil der Katakomben war trocken. Unwillkürlich musste Renoir an Stephen Kings ES und den Monsterclown Pennywise denken, der mit seinen Luftballons aus den Kloaken unter der Stadt Derry seinen Opfern auflauert. Renoir hatte das Buch mit dreizehn gelesen, als er mit hohem Fieber im Zirkuswagen gelegen und Sandinis CD gehört hatte. Die psychedelischen Gitarren von Bruce Springsteens 1985er Live-Album hatten zusammen mit den Fieberträumen, in denen der lachende Killer-Clown ihn zuverlässig heimsuchte, einen großen Einfluss auf ihn ausgeübt. In der Folgezeit hatte er auf dem Fahrrad, wenn er durch dunkle Gassen oder Parks gefahren war, immer ein Bein trittbereit gehalten. Hinter jeder Ecke hatte er den Clown mit seinen schwebenden Luftballons vermutet und sich stets dafür gewappnet, ihm ins geschminkte Gesicht zu treten, um auf der zu erwartenden Verfolgungsjagd zum rettenden Zirkusgelände wenigstens auf einen kleinen Vorsprung bauen zu können.
Im Tunnel unter der Stadt spürte Renoir wieder die Anwesenheit des Bösen. Als er sich umwandte, meinte er, in der Finsternis sogar eine Traube Luftballons wahrzunehmen, die im leichten Luftzug über Rattenkot und den längst verwesten Rückständen menschlichen Lebens schwebte.
Obwohl Renoir sich dadurch noch mehr zur potenziellen Zielscheibe machte, schaltete er seine Taschenlampe auf volle Leuchtkraft und sah sich um. Die Wände waren schmucklos, Gebeine und Kreuze waren nicht zu sehen. Nur eine Grabplatte verwies auf den Zweck, den diese Gänge einmal erfüllt hatten. Er entsicherte seine Pistole, dimmte die Taschenlampe wieder herunter und schlich vorsichtig weiter. Nach einer Kurve macht er in der Dunkelheit vor sich einen schwachen Lichtschein aus. Er überlegte, ob nicht vielleicht Liza ihn nun ähnlich fantasievoll zu einem morbiden Date lud, wie er es in der kurzen Zeit ihrer Beziehung damals so oft getan hatte. In seinem Innersten wusste er, dass sie so etwas niemals machen würde. Trotzdem lenkten ihn die Gedanken an Liza wenigstens für eine kurze Zeit von schlimmeren Erklärungsversuchen ab. Den Schattentruppen des Mauren wollte Renoir nicht allein an so einem Ort begegnen und den Mördern mit den Rabenmasken erst recht nicht. Schließlich sah er ein, dass er nicht in der Position war, Wünsche zu äußern und tastete sich weiter.
Als er nach einer weiteren Biegung des Tunnels einen süßlichen Verwesungsgeruch wahrnahm, dachte Renoir erneut daran, umzukehren. Er horchte eine Weile an die Tunnelwand gepresst, dann nahm er sein Handy. Über ihm ging ein langer Schacht mit Leitersprossen ab. Er kletterte einige Stufen hinauf und schaffte es im dritten Anlauf irgendwie, mit einem halben Balken Empfang per SMS um Unterstützung zu bitten, falls er sich in den nächsten Minuten nicht melden sollte.
In den Gang zurückgekehrt, ließ ihn ein Geräusch urplötzlich herumfahren. Wieder dachte er an den Terrorclown aus der Kloake, sah hinter sich aber nur undurchdringbare Schwärze. Mit seiner Lampe auf sich aufmerksam zu machen, wagte er nun nicht mehr. Die Lust, sich dem Unbekannten allein zu stellen, war ihm schon lange vergangen. Liza würde ihn niemals in so eine Höhle bestellen. Kein Mensch, der normal im Kopf war, käme auf die Idee, ihn in so eine Höhle zu bestellen. Niemand würde ihn schreien hören, wenn diesmal er als Zeuge jener verhängnisvollen Nacht am Pfahl landen und durch Eisennägel qualvoll zu Tode gefoltert werden sollte.
Das Licht, das weiter vorne in den Gang fiel, war nun deutlich als Fackelschein zu erkennen. Möglichst lautlos und mit erhobener Pistole schlich Renoir weiter, bis er an einer Ansammlung bröckeliger Grabsteine eine Einbuchtung erreichte. Vorsichtig spähte er um die Ecke. In der Mitte eines Raumes, der von verzierten Grabsäulen begrenzt wurde, steckten zwei Fackeln, deren Dämmerlicht die Knochen und Totenschädel an den Wänden umso unheimlicher erscheinen ließ. Im hinteren Teil stand ein Kerzenständer neben einem in den Boden eingelassenen Kreuz. Vereinzelt hatte jemand Teelichter in die Totenköpfe gestellt, die Renoir wie mit Teufelsaugen anzustarren schienen. Die ganze Höhle war eine feierliche Inszenierung von Tod und Verfall. Was Renoir aber in der hintersten Ecke sah, raubte ihm komplett den Atem.
Tote Fasane baumelten halb verwest mit aufgerissenen Bäuchen und blutigem Gefieder an einer Art Stacheldraht-Mobile von der Decke. Sie waren von seltsam starken Spinnweben eingefasst, in denen Tarotkarten hin und herpendelten, als würden sie von unsichtbarer Hand bewegt. Wie gelähmt blieb Renoir stehen und starrte auf die Kadaver. Plötzlich meinte er, am hinteren Ausgangstunnel der Höhle die Silhouette eines Mannes zu erkennen. Er richtete seine Waffe auf den wieder leeren Tunneleingang und überlegte, die Verfolgung aufzunehmen. Schließlich entschied er sich, auf die Verstärkung zu warten. Er hatte mehr als genug riskiert und konnte sich glücklich schätzen, überhaupt heil aus diesem versunkenen Schreckenslabyrinth herauszukommen.
Seine Pistole umklammert, strebte er rückwärts, nahm aber aus Versehen den falschen Gang. Als er nach einer gefühlten Ewigkeit noch immer nicht an der Höhle mit den Kreuzen vorbeigekommen war, befiel ihn die Panik. Zu oft mussten die Kollegen ausrücken, weil einer der Kataphilen nicht mehr aus den Tunneln herausgefunden oder mit gebrochenen Beinen in einem Erdloch lag. Er wäre nicht der Erste, der in den Tunneln elendig verreckt wäre und er wollte nicht sterben. Er zwang sich zur Ruhe und versuchte den Weg zurückzugehen. Als er nach schier endlosem Bangen wieder den Feuerschein vor sich sah, musste er sich zwingen, nicht loszulaufen. Noch immer er war er sich sicher, dass er in der Höhle eine Schatten gesehen hatte und wollte nicht frohlockend seinem Tod in die Arme laufen.
Vorsichtig spähte er in die Höhle und meinte wieder, beim Ausgang auf der anderen Seite einen Schatten zu sehen. Einen Moment überlegte er, der Sache nachzugehen, dann schob er sich in Richtung Ausgang. Die Angst, sich wieder zu verirren saß tief, trotzdem ging er immer schneller. Als er mit dem Rücken an ein Hindernis stieß, schrie er unwillkürlich auf und fuhr herum. Es war nur ein Vorsprung in der Höhlenwand, aber er war sich nun sicher, hinter sich im Gang Schritte zu hören. Ohne weiter auf Absicherung zur achten, rannte er los. Schon nach wenigen Schritten kam er ins Straucheln. Zum ohrenbetäubenden Knall eines Schusses fiel er zu Boden.
2. Dschihad und eine Falle
Abu Wallaa (Ducart)
Commandant Ducart setzte zum zwanzigsten Mal an, um den Satz sinnvoll abzuschließen, und gab endgültig auf. Seine Motivation, Renoir zu verteidigen, überstieg immer noch seine Müdigkeit, aber er konnte keine sinnvolle Erklärung anbieten, wie und warum Renoirs DNA auf der Sturmkappe des Schlächters gelandet war. Die Kappe war eines der beiden zentralen Beweisstücke gegen Batteux gewesen, hatte aber nicht zu seiner Verurteilung gereicht, als das zweite Asservat, ein Fetzen blutigen Stoffes, sich als manipuliert erwiesen hatte.
An der Aufarbeitung der generellen Umstände und der Manipulation des Stofffetzens arbeitete die gefürchtete interne Ermittlungsabteilung, die »bœuf-carottes«, schon seit Prozessende. Die verunreinigte Kappe war erst jüngst auf die Agenda geraten, als ein Boulevardblatt die Sache zum Thema gemacht hatte. Der Zeitungsbericht gab nur eine anonyme Quelle als Referenz an und nannte keine Namen, aber die Interne hatte keine gebraucht, um die richtigen Schlüsse zu ziehen und die Spuren auf dem Asservat zu verifizieren.
Ducart hatte in einer ersten Stellungnahme ausgeführt, dass Renoir vermutlich aus Versehen im Rahmen des Prozesses damit in Berührung bekommen war. Daraufhin wollte die Interne wissen, warum dann der Bericht geändert worden war und es auf eine frühere Version keinen Zugriff mehr gab. Die »bœuf-carottes« warteten seit dem Vortag auf seine erneute Stellungnahme und Ducart brauchte einen neuen Ansatz, um die Suspendierung oder sogar eine Anklage Renoirs wenigstens hinauszögern zu können.
Außerdem war es spät geworden. Seine Frau Christine erwartete nicht, dass er nach Hause kam, bevor der jüngste Sohn ins Bett ging. Sie erwartete nicht einmal mehr, dass sie selbst ihn noch zu sehen bekam, bevor sie erschöpft nach dem Tag mit drei Kindern ins Bett fiel. Auch zu erschöpft für familiäre Revolte, hatte sie ihren Frieden damit gemacht. Wenn sie aber die Diagnose kennen würde, die der Arzt Ducart drei Tage zuvor gegeben hatte, hätte sie ihn eigenhändig aus dem Revier geschleift und ihn ohne Krankschreibung und besondere Vorsichtsmaßnahmen keinen Schritt mehr alleine machen lassen. Es war nie eine von Ducarts Stärken gewesen, bei der Prioritätensetzung seinem Herzen zu folgen. Wenn er nicht aufpasste, würde er sterben, bevor er in dieser Hinsicht endlich zur Vernunft kam.
Der Commandant packte seine Tasche und sah an der Tür zum altehrwürdigen Treppenhaus auf den immer noch voll möblierten Flur der Brigade Criminelle zurück. Im Jahre 1910 hatte sich die Stadtverwaltung durch die Taten der anarchistischen Bonnot-Bande genötigt gesehen, besondere Maßnahmen zu ergreifen und fortan die Männer in den dunklen Anzügen von hier aus gegen das organisierte Verbrechen kämpfen und Mörder ermitteln lassen. Seit einigen Wochen stand das legendäre Gebäude am Quai des Orfèvres leer. Alle Kollegen hatten mittlerweile ihre Büros im großen Neubau in der Rue du Bastion an der Périphérique des 18. Arrondissements bezogen. Nur die zwei berühmten schwarzen Schafe der Mordkommission, Franc Baratte und Pierre-August El-Kaliqui, gennant Renoir, waren samt Ducart als Betreuer hier zurückgelassen worden.
Obwohl die Situation für die sogenannten »Schummelbullen« schon seit dem geplatzten Schlächter-Prozess fast hoffnungslos war, hatte Ducart Franc und Renoir durch geschickte Manöver lange in ihren Positionen halten können. Ducart hatte sein ganzes Gewicht als Respektsperson eingesetzt, damit die Kampagne der Presse, die die Öffentlichkeit bereits maximal gegen die beiden aufwiegelte, wenigstens bei der Polizei nicht zu Vorverurteilungen führte. Er hatte an seine Jungs geglaubt und redete sich ein, dass er das immer noch tat. Als aber das streng vertrauliche Schreiben vor ein paar Tagen mit der Bestätigung des Skandalberichts auf seinem Schreibtisch gelandet war, hatte Ducart sich arg zusammennehmen müssen, um die geforderte Verschwiegenheit zu achten und nicht sofort zu Renoir zu rennen. Es traf ihn tief, ihn so abgleiten zu sehen und es erfüllte ihn mit ehrlicher Besorgnis, dass Renoir seit Wochen kaum noch er selbst zu sein schien. Dass Franc unausgeglichener als sonst war und sich immer mehr Auszeiten nahm, war angesichts der allgemeinen Lage zu verschmerzen. Renoir stand aber so sehr neben sich, dass Ducart es trotz aller Verbundenheit fast bereute, sein Schicksal loyal an das des jungen Kollegen gebunden zu haben.
Der Commandant hatte die Gründe dafür nie in Worte fassen können, aber als dieser schlaksige Kommissaranwärter an einem Montag vor fast sechs Jahren mit verlorenem Blick in der Präfektur aufgekreuzt war, hatte er ihn sofort ins Herz geschlossen. Kurz darauf hatte er bei den ersten Einsätzen den Kontrast zwischen Renoirs enormer Athletik und Explosivität und seiner zögerlichen Melancholie erlebt. Seitdem hatte er sich darum bemüht, dass Renoir nur ihm zugeteilt wurde und hatte ihn auch Franc gegenüber immer verteidigt.
In was der Junge nun hineingeraten war, überstieg Ducarts Horizont. Vielleicht war der öffentliche Druck auf die beiden Kommissare so groß gewesen, dass sie die Probe um deutlichere Spuren des Schlächters angereichert hatten, wobei Renoirs DNA auf die Sturmmaske geraten war. Vielleicht hatten sie die Kappe wirklich nur falsch gelagert oder Renoir hatte einfach Pech gehabt. Oder es gab nur die Erklärung, die die bouef carottes mittlerweile für denkbar hielten, die Ducart aber so sehr das Herz brechen würde, dass er nicht intensiver darüber nachdenken wollte.
Er nahm seine Tasche vom Regal, auf dem einmal die Pokale der Brigade gestanden hatten und schloss die Tür. Er stieg die ausgetretene Treppe hinunter und sog auf der Uferstraße die Nachtluft ein, als habe er seit Stunden nur Gift geatmet. Auf der linken Straßenseite zog sich eine lange Reihe Transporter der Gendarmerie bis zum Pont Saint Michel, auf der anderen Seite gurgelte das Wasser der Seine im Hecksog eines der Bateaux Mouches.
Ducart stützte sich auf das Geländer und sah auf die alten Häuser am anderen Ufer, die zum Teil in der obersten Etage mit absurd hohen Glaslofts abschlossen. Wieder spürte er dieses Stechen in der Brust, aber noch bevor er darüber nachdenken konnte, ob er es diese Mal ernst nehmen sollte, surrte sein Handy.
»Er war da, verdammt«, hörte er Commandant Lagardes aufgebrachte Stimme.
»Wer war wo?«
»Franc, in Pigalle. An unserem Tatort, sogar vor uns! Er hat sich eingemischt. Du weißt, was das heißt.«
»Warum war er vor euch da?«
»Keine Ahnung! Er hat das Opfer zuerst befragt und ’nen Polnischen gemacht, bevor wir angekommen sind. Der Modus Operandi der Attacke passt außerdem zum Schlächter – und noch einmal lass ich mir meinen Fall nicht durch deine Stümper versauen.«
Ducart unterließ es, Lagarde darauf hinzuweisen, dass die Koffermorde trotz Lagardes intriganter Versuche Ducarts Fall geblieben war. Er konnte Lagarde nicht ausstehen und gönnte ihm jeden Stein, der ihm in den Weg gelegt wurde. Trotzdem versprach er, sich um Franc zu kümmern.
Zu den Klängen von Miles Davis‘ »Flamenco Sketches« lenkte Ducart seinen Wagen über den Pont Neuf. Auf der Rue de Rivoli war auch zu dieser Uhrzeit das Gedränge so stark, dass er überlegte, sich mit Blaulicht durch den Verkehr zu pflügen. Als er schon wieder ein Ziehen in der Brust spürte und um ein Haar einen rechts überholenden Motoroller unter sich begraben hätte, hielt er an der Place de l’Opéra an und zwang sich, trotz aller Eile seine Atemübungen zu machen.
Vor ihm thronte die Opéra Garnier, rot und golden angestrahlt, über dem nervösen Pariser Verkehr. Ducart überlegte, wie lange er mit seiner Frau dort keine Ballettvorführung mehr angesehen hatte. Seitdem die Kinder da waren, gerieten solche Unternehmungen zur absoluten Ausnahme, und nachdem vor neun Monaten Lucien das Licht der Welt erblickt hatte, kamen sie gar nicht mehr aus dem Hamsterrad heraus. Es musste über ein Jahre her sein, dass er Christine das letzte Mal festlich ausgeführt hatte und mit ihr am Arm unter den irren Kuppelgemälden zu den Logen gegangen war. Er war sich bewusst, dass sie bald etwas daran ändern und mehr schöne Dinge erleben mussten. Realistischerweise wusste er aber nicht einmal mehr, wie viel Zeit ihm noch blieb, überhaupt irgendetwas zu erleben.
Ducart atmete tief durch und ließ einen Konvoi der Gendarmerie passieren, dann gab er wieder Gas. Nach einer Weile parkte er seinen Wagen in einer Seitenstraße. Auf dem begrünten Mittelstreifen des Boulevard de Clichy lauerten wie immer betrunkene Jugendliche auf leichte Touristenbeute, die Türsteher vor dem Moulin Rouge halfen aufgetakelten Russinnen aus ihren Stretch-Limousinen.
So schnell er konnte ließ Ducart das Treiben hinter sich und bog in die kleine Gasse, die immer noch vollständig von Einsatzfahrzeugen verstopft wurde. Er zeigte den Streifenpolizisten am Hausdurchgang seinen Ausweis und trat in den Hof, von dem aus Salomon und Matthieu ihm entgegensahen, als hätten sie ihn erwartet.
Nach der Abservierung von Franc und Renoir hatten beide den Platz des skurillsten Ermittlerpaares sicher. Salomon Mabuka war ein dunkelhäutiger Diplomatensohn mit platter Boxernase von fast zwei Metern Körpergröße, Matthieu Lenglet ein kleiner Gamer mit geringem Selbstvertrauen und umso größerer Klappe, dessen Universum sich auf seine abgedunkelte Wohnung im ersten Stock des Boulevard Rochechouart beschränkte.
Ohne sich mit Grüßen aufzuhalten erläuterte Salomon Ducart die Lage. Die Ermittler hatten die Etablissements abgeklappert und auf der Straße herumgefragt, aber niemand hatte den Täter gesehen. Die einzige, die die Tat bezeugen konnte, war die Prostituierte, und die konnte den Mann nicht beschreiben. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er sie hatte entführen wollen und sie eher aus einer spontanen Laune heraus wieder ins Zimmer gedrängt hatte.
Ducart sah sich um. Blaulicht fiel von der Straße in den Hof, aus der Ferne näherten sich weitere Sirenen.
»Warum das Aufgebot, wenn es genauso gut Zufall oder ein Trittbrettfahrer sein kann?«
»Der Täter hat das hier fallen gelassen«, sagte Salomon und hielt Ducart den Zettel hin. »Darauf steht anscheinend der Name eines Imams.«
»Und?«
»Der Name des Imams ist Abu Wallaa.«
Ducart starrte auf den Zettel, als könnte er ihn so als Scherz entlarven. Abu Wallaa hatte sich in den letzten Monaten als kompromissloser Prediger und Rekrutierer für ISIS – oder Daesh, wie die Polizisten zu sagen pflegten – einen Namen gemacht. Dutzende von Jugendlichen des 93. Départements, Seine-Saint-Denis, in den nördlichen Banlieues waren seiner Propaganda gefolgt und in den sogenannten Heiligen Krieg gezogen. Wegen der schwierigen Beweislage und der gesetzlichen Grauzonen war der Araber bisher einer Strafe entgangen. Er predigte noch immer in der Moschee am Kanal, agierte aber zusehends im Verborgenen.
»Seid ihr sicher, dass der Täter den fallengelassen hat?«
»Die Frau meint ja«, antwortete Salomon. »Neben der Sache, dass der Schlächter eventuell nun einen auf Dschihad macht, gibt es aber noch eine andere Theorie zu Tat und Täter. Franc war in Rekordzeit vor Ort. Eventuell zieht er etwas ab. Er ist komplett neben der Spur und er hat ein Motiv.«
Ducart sah ihn entgeistert an.
»Meinst du, Franc hat das angezettelt, damit die Schlächter-Ermittlungen wieder intensiviert werden?«
»Ihm ist alles zuzutrauen.«
»Er würde doch überhaupt nicht mehr ermitteln dürfen.«
»Die Hoffnung stirbt zuletzt.«
»Und dann platziert er einen Zettel, der auf einen radikalen Imam verweist, um Ermittlungen gegen den Schlächter auszulösen?«
Salomon zuckte die Achseln.
»Vielleicht will er sicher gehen, dass die Sache die richtige Aufmerksamkeit bekommt«, sagte der kleine Matthieu. »Im 93. sollten wir eh mal ordentlich aufräumen. Sonst bringen die den Dreck bald über die Périphérique zu uns.«
Ducart sparte es sich, Matthieu wegen seiner rassistischen Äußerungen zurechtzuweisen. Er drehte sich um und ging über den Hof zu einer Tür mit roter Laterne, hinter der der versteckte Puff lag. Ducart war eigentlich Pathologe, hatte es aber mit der Zeit in der Mordsektion der Pariser Präfektur zur Respekts- und Führungsfigur gebracht. Er war weitgehend seiner fachlichen Aufgaben entbunden worden und hatte einige Jahre als inoffizieller Leiter der Einheit den Job des zumeist abwesenden Chefs übernommen. Seine gesundheitliche Situation und die jüngsten Entwicklungen hatten die Verhältnisse in der Abteilung durcheinandergewürfelt, und Commandant Lagarde hatte die entstandene Lücke bereitwillig gefüllt. Trotzdem sahen viele Ducart noch als ihren legitimen Chef an und suchten immer noch oft bei ihm Rat.
Im Zimmer sahen zwei der Männer in weißen Overalls von ihrer Arbeit auf und grüßten ihn. Trotz seiner aktuellen Rolle als Bewährungshelfer für gefallene Polizeihelden war der Respekt auch unter den Gerichtsmedizinern so groß, dass sie aus reiner Gewohnheit in seiner Gegenwart immer noch nervös wurden.
»Habt ihr irgendetwas?«, fragte er
»Viel zu viel. Nach dem Arbeitstag ist der Körper der Frau DNA-Sammelstelle. Die Bude hier sowieso.«
»Was ist mit Fingerabdrücken am Körper?«
»Sie sagt, dass er Handschuhe getragen hat, weiß es aber nicht genau. Sie spricht nur noch von Satans eiskalten Händen. Wir sehen lieber noch einmal nach.«
»Ist der Volltrottel Baratte wieder aufgetaucht?«, fragte eine leise Stimme von der Tür, bevor Ducart weiter fragen konnte. Lagarde blickte ihnen von dort mit einer Miene entgegen, die man für ausdruckslos hätte halten können, die Eingeweihten aber klare Anzeichen von Wut signalisierte. »Anders gesagt, wäre es hilfreich, ihm diese Fragen selbst zu stellen. Wenn du ihn also so schnell es geht rankarren könntest, anstatt meine Leute von ihrer Arbeit abzuhalten, wäre ich dir enorm verbunden, Sylvain.«
Ducart sah ihn an. Lagarde war knapp zehn Jahre jünger als er, aber frühzeitig ergraut, was ihm eine gewisse Eleganz verlieh, ihn aber oft wie eine Klischeefigur aus einem italienischen Gangsterfilm wirken ließ. Seine fast kindlich glatte Haut und die besondere Ebenmäßigkeit ließen ihn oft künstlich wirken, aber jeder wusste, wie authentisch seine Aggressivität war, wenn man ihm in die Quere kam.
Eigentlich hätte Ducart hier den Ton angeben müssen, aber nun war er aus dem Spiel genommen und Lagarde befördert worden. Dass Ducart nicht mehr an den Ermittlungen teilhaben durfte, bedingte, dass Lagarde ihm keine Befehle erteilen konnte. Trotzdem wandte Ducart sich kommentarlos zum Gehen. Das Surren in seiner Tasche signalisierte ihm, dass er eine SMS bekommen hatte, und er wettete um drei Gehälter, dass deren Inhalt um Längen wichtiger war als ein Hahnenkampf mit einem Karrierepedanten wie Lagarde.
Auf einen Chartreuse (Franc)
Während hinter ihm die Kollegen in das Bordell einfielen, zog Franc die Tür auf der anderen Hofseite zu. Vom ersten Moment an hatte er das Gefühl gehabt, dass der Schlächter wieder zugeschlagen hatte. Dass der Täter nun offensichtlich irgendeine Verbindung zu einem Hassprediger wie Wallaa hatte oder diesen Umstand als Finte nutzte, brachte einiges an Komplexität mit sich. Er würde der Sache auf den Grund gehen müssen.
Über den Laufhausgang mit den Dessous.-Damen und das Treppenhaus gelangte er auf die Straße und betrat wieder das Sonnenstudio, in dessen Hinterzimmern Tiara ihr Gewerbe betrieb. Bevor er an ihre Tür klopfen konnte, schwang sie bereits auf. Tiara zog ihn ins Zimmer und sah sich noch einmal auf dem Gang um. Dann lotste sie ihn auf das Bett und zog eine Flasche Chartreuse aus dem Nachttisch hervor.
»Mehr Verwirrung als Jagdfieber?«, fragte sie, nachdem sie seinen Gesichtsausdruck studiert hatte und füllte ihm ein Glas mit der grünen klebrigen Flüssigkeit. Franc hatte in Kalifornien einschlägige Erfahrungen mit dem Gesöff gemacht. Es wurde seit Jahrhunderten von Kartäusermönchen in Grenoble nach einem Geheimrezept hergestellt. Die besondere Mischung aus Kräutern sollte eine anregende Wirkung entfalten. Franc wusste, dass das Zeug die Leute in Wahrheit nicht anregte sondern temporär in den Wahnsinn trieb. Wenn jemand am Tresen grünen Chartreuse orderte, war singend vom Stuhl kippen nach ein paar Runden das Mindeste, worauf man sich einstellen konnte. Meistens flogen Gläser und einige Hüllen hinterher. Chartreuse war Teufelswerk aus den Händen traditionsbewusster Geistlicher. Für die Euphorie und die Ernüchterung dieser Nacht war es genau das Richtige.
»Frag nicht«, sagte Franc als er Tiaras Blick sah und kippte seinen Schnaps hinunter. »Das war vielleicht nur ein Araber, der vorm Dschihad nochmal frei bumsen wollte. Vielleicht hat sich der Schlächter auch etwas ganz Perfides ausgedacht. Wer weiß.«
Tiara nickte und lehnte sich auf dem Bett zurück.
»Der Schlächter müsste aber nicht die Zeche prellen bei der Knete, die er mit seinen Buchverträgen und Fernsehauftritten verdient.«
»Nicht zu vergessen die Entschädigungssumme vom Gericht, die wir ihm wegen unserer Unfähigkeit großzügigerweise beschert haben.«
»Das ist nicht der Rede wert, und das weißt du«, sagte sie und schenkte ihm nach. »Jeder Auftritt bringt ihm fast genauso viel, und mit seinen Büchern macht der Typ Millionen. Das letzte Mal, als ich nachgesehen habe, war er mit zwei Büchern in den Top 20 und in ein paar Tagen kommt noch eins raus.«
Gérard Batteux verhöhnte sie seit seiner Freilassung nicht nur mit seinen TV-Auftritten und Gastbeiträgen in den Gazetten, sondern auch mit seinen Kriminalromanen. Seine literarischen Ergüsse waren nicht nur himmelschreiend schlecht, sie warteten auch mit Parodien der realen Ermittler auf, die verzerrt genug waren, um vor Klagen sicher zu sein, aber trotzdem jeden an die berühmten Schummelbullen denken ließen.
»Sind vielleicht noch andere Mädchen in den letzten Jahren von hier verschwunden?«, fragte Franc nachdenklich. »Am Ende hat der Schlächter schon vorher in den Puffs um den Place Pigalle gewildert und wir haben es einfach nicht gemerkt. Schließlich gehen wir immer noch davon aus, dass die zersägten Frauen in dem Koffer aus dem Bois de Vincennes Prostituierte waren.«
»Hier verschwinden andauernd Mädchen«, sagte Tiara und goss sich selbst nach. »Niemand fragt wohin. Die werden in die Heimat zurückgeschickt oder finden einen Mann, der sie freikauft. Hauen ab, um Filmstar zu werden. Landen auf der Straße mit der Nadel im Arm.«
Franc nickte. Plötzlich fühlte er diese immense Müdigkeit wieder. Seit Monaten war guter Schlaf fast unmöglich, und an Tagen wie diesem schmerzten seine Schläfen, als seien sie mit Stacheldraht durchzogen. Er kippte den dritten Schnaps hinunter und schüttelte sich kurz. Das Zeug war widerlich, aber es sorgte für ein sensationelles inneres Leuchten. Drei Schnäpse reichten schon, um merkbar Abstand von allen Katastrophen zu gewinnen.
Mit geschlossenen Augen lehnte Franc sich auf dem Bett zurück und musste auf einmal an Babette denken. Nach unzähligen verkorksten und kurzen Beziehungen hatte er mit ihr vor wenigen Jahren zu sich selbst gefunden und mit ihr die Zukunft geplant, die er vorher für größeren Sensationen mit allem Glanz und Gloria freigehalten hatte. Er war mit ihr zusammengezogen und hatte das Thema Kinder so geschickt mit Worten ausgespart, dass es doch stets präsent geblieben war.
Obwohl Babette als Unternehmensberaterin gut verdiente, war es Wahnsinn, sich in einer Stadt wie Paris eine Wohnung inklusive Gästezimmer zu leisten, das im überaus theoretischen Ernstfall für den Nachwuchs bereitstand. Der Wahnsinn hatte Methode, aber ehe sie ihr Vorhaben in Taten umsetzen konnten, nahmen die Koffermorde ihn vollkommen in Beschlag. Babette war Workaholic und hatte Verständnis für Launen und Überstunden. Sie kannte es, sich so in einer Sache aufzulösen und war für ihn da. Als der Schlächter aber begann, Drohungen, mit blutigen Fleischbrocken garniert, an ihre Privatadresse zu schicken, dauerte es keine zehn Tage, bis Franc sich in einer leeren Wohnung wiederfand und mit den wenigen Überbleibseln seines zertrümmerten Lebens in die Banlieues zog.
Franc saugte die letzten Reste des Gesöffs aus der Mundhöhle, als könnte das seine unbändige Wut, die ihn seitdem nicht mehr losgelassen hatte, wenigstens etwas lindern. Als er die Augen wieder aufmachte, stand ein volles Glas vor ihm, Tiara hielt ein weiteres in der Hand. Sie hatten auch in der wilden Zeit im Rainbow nie etwas miteinander gehabt, aber Chartreuse veränderte alles. Tiaras Bademantel war verrutscht und ihr Silberblick deutete an, dass das nicht zufällig geschehen war. Franc wusste, dass er nicht mit der Frau schlafen sollte, die seit seinem Umzug aus den Banlieues zurück in die Stadt zwischen ihm und seiner Obdachlosigkeit stand. Trotzdem konnte er nicht widerstehen.
Er beugte sich zu Tiara vor und glitt mit der Hand unter Tiaras Bademantel. Je mehr er ihren Körper erkundete, desto fordernder rauschte das Blut in Ohren und Schritt. Als er sie von ihrer Unterwäsche befreit hatte, stand die Frau auf, ließ ihr Becken vor seinem Gesicht kreisen und kniete dann vor ihm nieder. Franc zog sich Pullover und Jacke gleichzeitig über den Kopf und feuerte sie Richtung Tür. Als sein Handy aus der Jackentasche rutschte, sah er den Eingang einer SMS. Es war sein Dienst-Handy, und in seiner Lage konnte es nur wichtig sein. Trotzdem entschied er sich, die Nacht am Nagel hängen zu lassen.
Als eine weitere Warnmeldung aufpoppte, drehte Tiara sich um und reichte ihm sein Handy.
»Da steht Wichtig mit !!!«, sagte sie und streichelte sanft seinen Bauchansatz. »Vielleicht geht die Jagd heute doch noch los, mein kleiner Falke.«
Mission Rettung (Ducart)
Wütend über das verpasste Techtelmechtel und den bereits anvisierten Vollrausch lenkte Franc den Wagen durch die Pariser Innenstadt. Ducart hatte gelernt, über Francs miesen Fahrstil hinwegzusehen. Als der junge Kollege aber zur Abkürzung in eine Einbahnstraße bog und einem entgegenkommenden Lastwagen im letzten Moment nur über eine Sperrfläche auswich, reichte es ihm.
»Wir kommen nicht schneller irgendwohin, wenn wir uns unterwegs totfahren!«
»Ich sollte doch Gas geben«, gab Franc zurück, bog wieder auf die Hauptstraße und überholte schlingernd einen Kleinwagen. »Außerdem: Wenn es um deinen geliebten Langen geht, zählt doch immer um jede Sekunde.«
»Irgendwas sagt mir eben, dass wir heute Nacht noch einen Toten zu sehen bekommen«, antwortete Ducart mit besorgten Blick auf die Verkehrsinsel, an der Franc ihren Wagen um Haaresbreite vorbeisteuerte. »Ich kann nur hoffen, dass es nicht Renoir ist.«
Während Franc sich über die Kreuzung hinter der Gare Saint-Lazare pflügte und danach sofort wieder Gas gab, sah Ducart Franc von der Seite an. Obwohl sich die kurz geschnittenen Haare bereits lichteten und der Vormarsch seiner Geheimratsecken im Laufe der letzten zwei Jahre nicht zu stoppen gewesen war, sah Franc immer noch wie ein quadratschädliger Lausbub aus. Er gab viel auf seine Fitness und die breiten Schultern, war seit der Tragödie um seine Freundin Babette aber etwas außer Form geraten. Bis vor einiger Zeit war er stets in T-Shirt und Sportsweater zum Dienst erschienen. Neuerdings trug er ausschließlich Designerklamotten, die jenseits seines stilistischen Horizonts und seiner Einkommensverhältnisse lagen. Er gab sich wie ausgewechselt und provozierte damit die üblichen Gerüchte. Nur das silberne Kruzifix auf seiner Brust ließ vermuten, dass der alte Franc noch existierte und sich wegen einer neuen Liebschaft oder einer vertieften lediglich Midlife-Crisis nur eine moralische Auszeit nahm.
»Franc, hör mir zu. Ich weiß, was alles an dem Fall dranhängt, aber wir dürfen nicht hysterisch werden.«
«In meinem ganzen Leben war ich noch nie weniger hysterischer als heute Nacht.«
Ducart zog die Augenbrauen hoch.
»Ach ja? Und warum fährst du wie Alain Prost auf Speed?«
»Jeder in der verdammten Milchstraße weiß, dass ich immer so fahre. Außerdem hasse ich Regen.«
Franc starrte mit zusammengekniffenen Lippen auf das bisschen Straße, das durch den grau verschlierten Regenvorhang zu sehen war und zauberte eine weitere Schlingerkurve auf die seifige Fahrbahn. Ducart wandte den Blick ab. Der heißblütige Kollege hatte schon vor der letzten Eskalation mehr Mist gebaut, als es sich für den guten Polizisten gehörte, der er unterm Strich war. Sein Verhalten im Schlächter-Fall war kaum zu entschuldigen, aber Ducart war immer noch gewillt, die schlimmsten der Ungereimtheiten für Pech und Zufall zu halten.
»Mir geht es eben auf den Geist, dass Renoir wieder solche Alleingänge macht«, sagte Franc und verlangsamte als Friedensangebot die Geschwindigkeit um Nuancen. »Genau wie damals bei den Koffermorden ist Ärger vorprogrammiert und eigentlich wollen wir doch raus aus der Scheiße.«
Ducart sah auf den Invalidendom, der mit seiner golden angeleuchteten Kuppel vor ihnen aufragte. Gemeinhin versuchte er, Renoirs Eigenheiten nicht negativ auszulegen, aber in dieser Nacht gelang ihm das nicht. Inständig hoffte er, dass sie noch rechtzeitig kommen würden, um ihn vor einer Dummheit zu bewahren.
»Deswegen müssen wir uns ja beeilen«, antwortete Ducart leise. »Er wirkt seit Wochen nicht gerade stabil und wir können uns keine Fehltritte mehr erlauben.«
»Stabil war er noch nie. Nicht einen verdammten Tag.«
Ducart wusste, wie sehr es Franc verletzte, dass er Renoirs Verhalten immer relativierte und mit Fähigkeiten verrechnete, die aus Francs Sicht einfach nur seelische Defekte waren. Sicherlich war er tatsächlich voreingenommen, aber er konnte nicht anders.
»Nach deiner Aktion vorhin solltest du lieber nicht voreilig mit dem Finger auf andere zeigen«, sagte Ducart und umklammerte den Haltegriff fester. Mit zusammengekniffenen Lippen raste Franc auf der Avenue du Maine in Richtung Tour Montparnasse.
»Da waren im Puff eben diese Schreie, ich musste handeln. Wie es sich gezeigt hat, hatte ich Recht mit meiner Ahnung. Das Vorgehen war genau wie beim Schlächter.«
»Gerade wenn irgendetwas wie beim Schlächter ist, müssten wir einen besonders großen Bogen darum machen. Auf solche Aktionen wartet Lagarde, um uns den Rest zu geben.«
»Und was tun wir gerade?«, fragte Franc und fuhr ungebremst auf die Kreuzung an der Porte d’Orléans zu.
»Uns alle mit einer Dummheit vor weiteren bewahren«, sagte Ducart und wies nach vorne. »Hinter dem Park links. Wir sind da.«
Sie fuhren an der Friedhofsmauer entlang und parkten hinter Renoirs Auto. Ducart eilte zum Tor und bedeutete Franc, ihn hochzuhieven. Als Franc sich endlich auch übers Tor gerollt hatte, war Ducarts Silhouette zwischen den Gräbern nur noch zu erahnen. Fluchend eilte Franc ihm nach.
»Und der Lange hat geschrieben, dass er auf dem Scheißfriedhof herumirrt, weil er so ein Gefühl hat?«, fragte Franc.
»Du weißt, wie er tickt«, antwortete Ducart und eilte auf das nächste Grablicht an der Gruft zu.
»Ich weiß, wie er tickt, aber deswegen traue ich ihm noch lange nicht.«
Ducart wies auf den offenen Schacht neben der Gruft.
»Er ist da runter. Wir müssen hinterher.«
Franc hielt ihn an der Schulter zurück.
»Das ist Selbstmord, Mann. Du weißt, was da unten immer passiert, wenn man da einfach herumstromert.«
»Renoir muss einen wichtigen Grund gehabt haben, um unter diese Gräber zu steigen.«
»Ja. Er ist jetzt komplett wahnsinnig geworden. Das kann man sich an zwei Händen abzählen.«
»Nichts für ungut, aber Zählen war noch nie deine große Stärke«, sagte Ducart und wollte sich an Franc vorbeischieben, aber der Kollege trat vor und packte ihn wie einen Verdächtigen am Kragen. Ducart hob besänftigend die Hände. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass Renoir uns hier in eine Falle lockt oder?«
Franc ließ ihn los, prüfte seine Waffe und beäugte nervös den Schacht. »Renoir hatte bei den Koffermorden definitiv Insiderkenntnisse. Wenn ich ihn danach gefragt habe, kam er mir mit Ausflüchten. Er hat etwas vertuscht. Vielleicht hat er sogar die Ermittlungen sabotiert, auf jeden Fall hat er uns in die Scheiße geritten. Heute zieht er wieder ’ne Solonummer ab, und ich möchte mich weder dafür abknallen noch von Ratten belagern lassen.«
Ducart machte sich aus seinem Griff los und strich seinen Mantel glatt.
»Glaub mir, ich wäre der glücklichste Mensch, wenn er wirklich nur durchdreht.«
Er kletterte Franc voran in die Tiefe hinab und leuchtete unten mit der Taschenlampe vorsichtig den mannshohen Gang aus. Der Commandant kannte die öffentlich zugänglichen Teile der Katakomben, in diesem Bereich war er nie gewesen. Die Leute erzählten sich gerne Gruselgeschichten über das unterirdische Tunnelnetz. Das meiste war Unsinn, aber einiges stimmte. Auch die Einsturzgefahr dieser nicht freigegebenen Katakombenteile war kein Ammenmärchen. Ihre Mission war potentiell lebensgefährlich. Wenn sie allerdings weiter zögerten, verringerten sich die Chancen, Renoir vor sich selbst oder seinem Killer zu bewahren.
Der brachiale Knall eines Schusses ließ sie zusammenfahren. Franc griff zur Waffe und presste den Rücken gegen die Schachtwand.
»Es kam von da hinten«, flüsterte Ducart und wies in den Gang rechts. »Hoffen wir, dass Renoir geschossen hat.«
»Das ist eine Falle«, zischte Franc.
»Du kannst ja hier bleiben, wenn du Angst hast«, sagte Ducart und entsicherte seine Pistole. Er drehte sich um und ging voran in die Dunkelheit. Franc folgte ihm leise fluchend.
An der zweiten Abzweigung blieben sie stehen. Franc meinte eine Bewegung in einer Nische gesehen zu haben. Er entschloss sich, seiner Fantasie nicht nachzugeben und horchte weiter in die Dunkelheit vor ihnen, als er aus dem Augenwinkel plötzlich einen Pistolenlauf sah. Ohne den Kopf zu wenden, hob er langsam die Hände.
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