Das Lektorat trägt erste Früchte. Um den Anfang noch plastischer zu machen, habe ich den Prolog erweitert. Zudem habe ich die Staatssoftware »Der Algorithmus« als zweite »Erzähleinheit« in meine Dienste genommen. Einen neuen Modus für das weitere Lektorat gibt es noch nicht, aber zur Zeit sprudeln die Ideen auch ohne neue Anstöße von außen. Jeder, der dennoch welche geben möchte, ist jederzeit dazu eingeladen. Der Text ist noch roh, ich hoffe, er ist dennoch anregend.

(Wer ganz aufmerksam liest, wird merken, dass ich das Datum der Handlung um 10 Jahre nach hinten gelegt habe. Der Roman spielt nun im Jahre 2049.)

Prolog

1. (Der Algorithmus)

DA Log-File

Ort: Abteilung für Kriminalprävention, Ministerialpalast, Normalstadt

Geschehnis: Eingang priorisierter Warnmeldung

Warngrad: Gefährdungsstufe 7, Doppelblau

Besonderheit: Weitere Besonderheiten

Wahrscheinlichkeit der Prävention: 0 – 100 %, Ausfall einiger Datensätze

Ungläubig betrachtete Kriminaloberkommissar Pirius das Log-File der Staatssoftware »Der Algorithmus« und dirigierte die dazugehörige Holo-Projektion in die Mitte des Raumes. Hinter den Glaswänden des zentralen Überwachungslabors der Abteilung für Kriminalprävention arbeiteten die anderen Kommissare in kleinen Nischen, für die Palmenpflanzen und fantasievoll gestaltet Holo-Hecken als Raumtrenner dienten. Im Labor selbst arbeitete nur ein weiterer Kollege auf einer terrassenförmig auf die weißen Wandsäulen zulaufende Dateneinheit.

Als der junge Mann oben bemerkte, dass Pirius die Scheiben des Labors blind schaltete und die Warnmeldung vergrößerte, ließ er sofort von den Videoschnipseln ab, die im virtuellen Raum zwischen den Säulen in schneller Abfolge über die Auswertungsschirme jagten und trat neben seinen kahlköpfigen Chef.

»Gefährdungsstufe 7? Wie kann das sein? Und was zur Hölle soll Doppelblau bedeuten?«

Pirius zuckte mit den Achseln. Gefährdungsstufe 7 war die größtmögliche zivile Warnstufe. Das Militär blieb in seinen Kasernen und Notstandsverordnungen wurden nicht nach Außen kommuniziert, aber hinter den Kulissen wurde alles alarmiert, was alarmiert werden konnte.

»Keine Ahnung. Doppelblau verweist auf eine nicht definierte Abnormität, mehr weiß ich nicht. Das kam noch nie. Daher wahrscheinlich auch der vage Hinweis auf weitere Besonderheiten. Allerdings hätten wir auch ohne kryptische Angaben und Farbzusätze längst etwas davon erfahren müssen, wenn sich Stufe 7 anbahnt. Eigentlich.«

Kommissar Mittelberger sah verkniffen auf die verzerrten Bilder in der Raummitte, aus denen sich ebenso wenig Sinnvolles erkennen ließ. Trotz der Aufregung des älteren Kollegen löste er sich nur langsam von den Impressionen des Wochenendes. Der wilden Party im 20er-Jahre Viertel Berlins. Jenem Bereich der Stadt, den er zum ersten Mal seit der pompösen Eröffnung einige Monate zuvor besucht hatte und in dem er besser nicht zu oft seine Freizeit verbrachte, wenn er an einer Karriere bei der Präventivpolizei interessiert war.

»Und es gab nichts dergleichen am Wochenende?«, fragte er vorsichtig und versuchte sich an etwaige Nachrichten in der Stelzenbahn der Normalstadt zu erinnern, bevor die Drogen im Viertel alle fassbaren Erinnerungen transformiert und den Abend in Farbspiele und Ekstase aufgelöst hatten.

»Nein, im Wilhelminischen Viertel gab es das übliche Gehure und eine Schießerei in der Nähe des Westhafens. War aber nur eine normale Vergeltungsaktion innerhalb der Banden. In Mauerberlin wurde bunt aber unspektakulär demonstriert und wegen der bevorstehenden Kanzlerwahl sind alle in Alarmbereitschaft, aber es gab keine Sonderwarnung. Der Touristenindex war sauber, die Bewertungen waren gut und die Emosituation der Rückkehrer an den Shuttlestationen war weit überdurchschnittlich. Die Tickets für beide Kulissenviertel waren eh allesamt ausgebucht, wie immer. Eigentlich ein voller Erfolg ohne Schattenseiten. Und auch derzeit lässt sich nichts Ungewöhnliches erkennen, jedenfalls noch nicht.«

Pirius schob Luftaufnahmen aus Mauerberlin in den hinteren Teil des Raumes und blätterte in ihnen. Am Kotti tanzten ein paar vermummte Gestalten um brennende Mülltonnen, ansonsten verwiesen Pfeile auf Punkkonzerte und eine Gala mit Inkarnationen von David Bowie und Iggy Pop im Westen der Stadt. Nur den normalen Absturz, nichts besonderes.

»Sind die von uns?«, fragte Mittelberger und deutete auf die Vermummten.

»Da musst du die Sicherheitspolizei fragen, aber schon möglich. War ja fast zu ruhig im wilden Mauerberlin, jedenfalls für Touristengeschmäcker«, murmelte Pirius. Er wechselte die Bildspur und flog die Mauer ab, die der junge Kanzler Söderberg samt Selbstschussanlagen und geteilter Nostalgiestadt einige Jahre zuvor in die nach der Großen Katastrophe entvölkerte Brandenburgische Pampa gestanzt hat.

»Es gab absolut keine Grenzverletzungen. Die Bewegungsmuster sind normal, auch die Stasi hat nichts aus dem Ostteil. Stufe 7 kann nur ein Fehler sein. Vielleicht deutet Doppelblau auch auf ein Versagen der Systeme hin und nicht auf eine Abnormität dort draußen. Vielleicht resultiert Stufe 7 sogar daraus und ist gar nicht der Ursprung der Meldung. Das ist aber schwierig zu sagen, da ich nicht einmal verstehe, was genau so gefährlich sein soll. Aus irgendeinem Grund wurde dazu nichts mitgesendet. Und auch das habe ich noch nie erlebt.«

Mit zusammengekniffenen Augen blätterte er in weiteren Projektionssplittern der Meldung.

»Aber du weißt, was das für uns heißt?«, bohrte Mittelberger nach. Pirius nickte. Er war lange genug dabei, um zu wissen, welcher Befehl des Algorithmus alle Einheiten abseits des Militärs unverzüglich aktivierte. Auch wenn er selbst nie Zeuge davon geworden war.

»Und das unterstützt er einfach so? Selbst wenn es vielleicht nur ein Fehler ist?«, fragte Mittelberger und zeigte mit dem Finger vage entlang der Säulen in Richtung Ministerialtrakt.

»Er muss. Schließlich ist das Vorgehen wie alles bei den Überwachungssystemen seine Prozessvorschrift. Außerdem ist alles bereits in die Wege geleitet. Nicht einmal unserer Herr Kanzler höchstpersönlich könnte noch etwas daran ändern. Der Algorithmus hat schon alle in Alarmbereitschaft gesetzt, sogar die Abteilung A.«

Er vergrößerte einen neuen Videoschnipsel, der neben der Projektion aufleuchtete, und schob ihn an die weiße Seitenwand.

»Und so, wie es aussieht, bekommt die in diesem Moment sogar prominente Verstärkung. Wenn ich diese Abnormität richtig deute.«

Nach und nach blinkten weitere Abnormitäten neben der anderen Bildsäule auf, aber Pirius schob sie zur Seite. Gebannt starrten beide auf das Gesicht am Fenster des Normalstadt-Transitzuges und den himmelhohen Zaun dahinter. Die kahle Schneise, die zu beiden Seiten des Eisenmonstrums in den stadtnahen Wilden Wald geschlagen worden war.

»Ist das etwa …?«, fragte der Junge und brach ungläubig ab.

»Genau der«, knurrte der Alte. »Das boxende Milchgesicht. Der neue Liebling der Massen im Märkischen Viertel. Der blasse Engel des Todes, wie sie ihren neuen KO-König nennen. Die sind alle ganz versessen auf den und wenn du mich fragst, hätten die den auf der anderen Seite des Zaunes weiter exklusiv haben können oder sogar müssen.«

Er rief neben der Projektion das Profil des Mannes auf.

»Der ist zwar Wachsöldner mit Spezialprofil und boxt nur nebenher, aber der ist bestimmt nicht dazu befähigt, bei uns mitzumischen. Das ist viel zu riskant mit solchen Leuten und das weiß in der Normalstadtpolizei auch jeder. Irgendwer muss trotzdem den Befehl gegeben haben, ihn hierher zu befördern.«

Kopfschüttelnd wandte er den Blick wieder zur Projektion.

»Und dann ausgerechnet in die Abteilung A …«

Die »Abteilung für abnormes Ableben«, im Volksmund »Abteilung A« genannt, wurde in der Außendarstellung als Elitetruppe hingestellt, galt intern aber als Abstellgleis für Verlierer. Sie untersuchte die Todesfälle, die die Warnsysteme der Abteilung für Kriminalprävention nicht hatten verhindern können. Und da diese im Zusammenklang mit der Staatssoftware als unfehlbar gelten mussten, wurde in den meisten Fällen unter dem Schutzmantel der Sicherheitspolizei rasch ein natürlicher Tod konstruiert, bevor der Abteilung A Handlungsspielraum gewährt wurde. Die Presse war seit der Großen Katastrophe im Jahre 2033 zwar fest in Politikerhand, aber es gab genug illegale oder halblegale Indie-Presse in den abseitigen Teilen der Viertel, als dass man auf die effektive Gleichschaltung der Meinungsmedien vertrauen konnte. Daher war die Abteilung A ein zahnloser Tiger, der in der Hierarchie der Staatsicherungseinheiten trotz der öffentlich demonstrativ verteilten Lorbeeren ein belächeltes Außenseiterdasein fristete.

»Meinst du Kanzler Söderberg weiß davon? Von dem Blassen und der Versetzung zur Abteilung A meine ich?«

Der Alte schnaubte.

»Bestimmt nicht, und er hat das auch bestimmt nicht verzapft. Aber irgendwer muss diese seltsam abstrakte Warnmeldung der Maschine als Anlass genommen haben, ihn herzuholen. Und das kann nur aus dem Umfeld des Rates gekommen sein. Die sind die einzigen, die solche Meldungen vor uns bekommen.«

»Abgesehen von der Sicherheitspolizei …«

»Ja, abgesehen von der, aber die hätten sicherlich keine Mühen darauf verschwendet, die Abteilung A durch boxende Prominenz zu verstärken.«

Die Bildfolgen an der Wand wechselten. In den neuen Sequenzen ging der junge Mann mit seiner Tasche über den Bahnsteig auf die von CyCops gesicherte Grenzschleuse zu.

»Der Rat sicherlich auch nicht. Warum sollten die sich mit so etwas abgeben?«

»Keine Ahnung, aber irgendwer hat sich ganz kräftig über Söderbergs Leitlinien hinweggesetzt und ich glaube nicht einmal, dass das zwingend ein Mensch gewesen sein muss. Die Systeme spielen verrückt. Wenn selbst die Zusätze der Warnstufen keiner Definition entsprechen, die wir kennen, ist alles möglich. Auch Kamikaze-Regelungen vom Algorithmus.«

Pirius zog die Stirn in Falten.

»Mit wem wird er zusammengeführt?«

Der junge Polizist zog die Konsole zu sich heran und tippte auf einige Leuchtknöpfe bis ein weiteres Gesicht an der Wand aufblinkte. Ein dicker, schwarzhaariger Mann saß an einem Tresen einer alten Berliner Bierbar. Man sah sein südländisches Gesicht mit den dunklen Tränensäcken schräg von unten. Im Hintergrund stand ein alter Röhrenfernseher neben Hertha-Wimpeln und einem Fenster mit Steppgardine.

»Der Fernseher, mein Gott! Das ist nicht in der Normalstadt, oder? Das …«

Aufgeregt zeigte er auf den Bildausschnitt.

»Das kenne ich, das ist in Mauerberlin.»

Der Alte nickte.

»Ja, das ist die »Bärenklause« in Neukölln, da ist er oft.«

Mauerberlin war das ältere der beiden beiden Berliner Kulissenviertel, die Kanzler Söderberg für die wirtschaftliche Prosperität der Weltmetropole Berlin erdacht hatte. In ihm fanden die Touristen aus aller Herren Länder Anbindung an die Beklemmung und Euphorie des magischen alten Berlins und Technologiekritiker und Nostalgiker Heimat in neuen und herrlich verfallenen Kommunen. Die Regeln der neuen Zeit machten per Staatsvertrag vor der Mauer ebenso Halt wie Überwachung und Datentransparenz. Als Preis dafür lebten alle Altberliner in einer Mischung aus Gefängnis und Museum, aus der nur in den seltensten Fällen eine Rückkehr in die Normalstadt gelang.

»Aber, warum sehen wir ihn, wenn er dort ist? Das ist illegal. Ich meine abseits der Luftaufnahmen reicht Der Algorithmus doch immer noch nicht bis nach Mauerberlin, oder?«

»Natürlich nicht, die Authentizitätsvereinbarungen gelten noch. Die Bilder kommen auch nicht von unseren Sensoren, sondern von seinem Mobile. Das ist nur halblegal, aber bei dem notwendig. Der steht auf dem Index.«

Der junge Mann pfiff durch die Zähne.

»Stimmt. Ist das nicht Bachir Sonstwas. Der mit dem Vermissten als Partner. Diesem Wirrkopf, der damals schneller verschwand, als wir ihn festnehmen konnten?«

»Genau der. Bachir Kemal ist anscheinend der neue Partner vom Blassen, und das verstehe ich erst Recht nicht. Das kann nicht so gewollt sein. Wir sollten lieber schnell Meldung machen.«

Der Junge drückte hektisch auf der Konsole herum.

»Ist er schon aktiviert?«

Bevor der Alte antworten konnte, blinkte es in dem Bild rot auf und der Dicke fluchte in Bierkutschermanier  in sein Bierglas.

»Jetzt ja. War auch klar, das lässt sich Chief Stadler nicht entgehen. Der hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich die offizielle Lesart des Tötungsverhaltens noch ändert und seine Abteilung A aus der Nische hervorkommt. Der setzt jetzt garantiert alles in Bewegung, wenn er schonmal mitspielen darf. Würde ich an seiner Stelle auch machen.«

Pirius nahm seine Jacke vom Stuhl und bewegte sich Richtung Ausgang.

»Auch wenn die oben das schon über die Systeme wissen, gehe ich lieber schnell hoch. Ich vertraue gerade keinem System mehr.«

An der Tür wandte er sich noch einmal um.

»Überprüfe auch den anderen. Selbst wenn es bescheuert ist, ich möchte sichergehen.«

»Welchen anderen?«

Er folgte Pirius Finger zu dem Gesicht des jungen Wachsöldners, der gerade auf eine Shuttle-Station zuging.

»Den anderen Boxer?«

»Wen denn sonst? Wenn sogar Der Algorithmus unzuverlässig wird, ist alles möglich und ich möchte es gerade jetzt nicht riskieren, dass eine andere Falschmeldung dazu führt, dass er freikommt.«

Er verschwand aus dem Türrahmen, doch der junge Polizist rief ihn zurück.

»Pirius, Halt! Nur damit ich das richtig verstehe. Wir wissen nicht, was so gefährlich ist. Aber wir wissen, dass das, was die Gefährdung bedeutet, noch nicht geschehen ist. Sonst würden wir konkretere Bilder dazu sehen, richtig?«

Sirius lehnte sich gegen den Türrahmen und sah ihn an.

»Ja, wir wissen etwas und wir wissen nichts. Und genau das macht mir Angst.«

»Weil DA auf einmal auf einem Auge blind ist?«

»Weil DA vielleicht schon eine ganze Weile blinder war, als wir gedacht haben. Und darüber, auf wie vielen Augen das so war, denke ich lieber gar nicht erst nach.«

2. (Castorf)

Ort: Wowereit-Klinik für die geistig Kranken, Normalstadt

Im Fokus der Deckensensoren: Hans Castorf, 43, Polizeilegende

Gefährdungspotential: Subjekt nach Akentlage wahnsinnig und gewalttätig

Anzahl der zu erwartenden Todesfälle: Bei Statusgleichheit 0

Sonstige Informationen: Überwachung priorisiert durch Oberkriminalkommissar Pirius

Die Wände waren weiß, die Decke auch. Von seiner Pritsche aus war es unmöglich zu sehen, wo das Eine anfing und das Andere aufhörte. Es interessierte ihn allerdings auch nicht mehr. Alles, was einmal von Interesse gewesen war, hatte Castorf so weit in sich vergraben, dass er selbst nicht sagen konnte, was davon er noch finden würde, falls er sich wieder auf die Suche begeben sollte.

Auch die Therapeuten hatten irgendwann aufgegeben, danach zu forschen. Anfangs hatten sich ganze Schwadrone vor ihm aufgereiht, aber keiner war zu ihm durchgedrungen, weder durch Gespräche oder Drogen und auch nicht mit Hypnose. Immer, wenn sie versucht hatten, ihn zu greifen, hatte er sich mit den Melodien in seinem Kopf fortgesungen von ihren Fragen und Blicken. Mit alten Jazzstandards, Liedern aus einer längst vergangenen Zeit, die sie beide so sehr fasziniert hatten. Vor allem der eine, Marias Lieblingssong, »This Masquerade« von George Benson.

Auch jetzt summte er ihn vor sich hin und ahmte die Griffe mit seinen Fingern auf seinem weißen Anstaltsschlafanzug nach.

Are we really happy here


With this lonely game we play


Looking for words to say?


Searching


But not finding understanding anyway


We’re lost in a masquerade



Die Trompete war die Stimme für die Seite an ihm gewesen, die er nie hatte zeigen können. Auf der Bühne hatte er mit einem Lied mehr gesagt als an ganzen Tagen im Revier und draußen in den Vierteln, aber in einem seltenen Moment des Erwachens verstand er, dass er hier in den weißen Räumen der Klinik viel mehr für sie gesungen hatte als auf allen Bühnen zusammen. Er war sich dessen sicher, obwohl es mittlerweile so lange zurücklag, dass er kein wirkliches Gefühl dafür mehr hatte. Nicht einmal für Maria. Wie alles andere hatte er sie zurücklassen müssen, als er hierher gekommen war und je mehr ihm klar geworden war, wie viel früher er sie schon verloren hatte, desto öfter hatte er für sie in seinem Kopf gesungen.

Both afraid to say


We’re just too far away


From being close together from the start


We tried to talk it over


But the words got in the way


We’re lost inside this lonely game we play



Sie war damals schon von ihm abgedriftet, hatte seine Schweigsamkeit nicht mehr ertragen, seine Extraschichten bei der Polizei und die Boxkämpfe in den Kellerbars des Märkischen Viertels. Clubs, die so illegal waren, dass nicht einmal sie sich traute, nach Details zu fragen. Er gab ihr auch nur wenige Anhaltspunkte, im Besonderen besorgt zu sein. Er war gut genug, meist mit wenigen Blessuren nach Hause zu kommen, aber niemand kam da heil raus. Ein bisschen passierte immer, selbst den Besten.

Niemandem hätte er beschreiben können, was genau daran ihn süchtig machte, aber aus irgendeinem Grund konnte er nicht aufhören, obwohl er sah, wie sie litt und sein Verhalten auf ihre Weise quittierte. Mit jenem regenschweren Schweigen, das sie mit sich in ihrem Zimmer einschloss. Mit Fahrten und Gängen durch die dunkle Stadt, deren Ziel sie selbst nicht kannte und die er für gefährlicher hielt als seine Eskapaden, obwohl er nie etwas dagegen sagen konnte, weil das, was er machte, aus allgemeiner Sicht viel waghalsiger war. Für ihn und für sie.

Thoughts of leaving disappear


Ev’ry time I see your eyes


No matter how hard I try


To understand the reasons


That we carry on this way


We’re lost in this masquerade


Er hatte sie immer wieder eingefangen, kurz aufgehört zu boxen und sie mit in die anderen Clubs genommen. Trompete für sie gespielt, »This Masquerade«, »Here´s That Rainy Day«, »These Foolish Things« und all die anderen Lieder, die oft hinter ihrer geschlossenen Tür erklangen. Er hatte sich zurück in ihre Räume soliert. Mit offenem Visier und immer voller Leidenschaft, aber nie ganz ehrlich, weil er insgeheim damit das Ticket für die anderen Clubs löste. Für Adrenalinkicks und Gefahr, die Auflösung all der Speichelleckerei, die er am Tag während des Dienstes runterschlucken musste. Die Planung der neuen Berliner Kulissenwelt, die Degradierung ganzer Bevölkerungsgruppen zu Kulissenteilen und Komparsen.

Irgendwie hatte sich das alles die Balance gehalten, aber als die Sache in Kreuzberg eskalierte und der alte Kanzler kurz darauf bei einem Attentat starb, konnte er nicht mehr schlucken. Er legte die Trompete weg und hörte auf zu boxen. Etwas stimmte nicht, das war ebenso offensichtlich, wie die Tatsache, dass alle anderen es vertuschten oder nicht sehen wollten. Er riskierte Dienstbeschwerden und nahm den Spott persönlich. Trotz aller Widerstände ermittelter er weiter – bis sie sich an Maria vergriffen.

Sie hatten sie wohl nur zusammenschlagen wollen, aber weder von dem ungeborenen Leben in ihr gewusst, noch von ihrer Bluterkrankheit. Bevor der Krankenwagen eintraf, war sie gestorben und hatte auch die Kleine mitgenommen. Sie lag nur noch tot da, mitten auf der Promenade am Görlitzer Ufer. Am Ende einer ihrer Touren, von denen er sie nicht hatte abhalten können, weil das Boxen und seine Arbeit ihm zu wichtig waren.

Verrannt hatte er sich schon viel früher, ab diesem Moment wurde es hoffnungslos. Eine kurze Zeit versuchte er mit den Ermittlungen weiterzumachen, doch als Beweise verschwanden und die Suche nach Marias Mördern behindert wurde, ließ er sich von keinem Sicherheitscheck irritieren. Er marschierte im Regierungspalast auf das Zimmer des neuen Kanzlers zu und sie ließen ihn machen. Sie ließen ihn mit seinen Stieraugen weiter marschieren, um ihn direkt vor dem Sitzungszimmer des Rates festzunehmen und wegen versuchten Mordes einzusperren.

Bis heute wusste er nicht, wer ihn damals vor dem Knast bewahrt hatte. Vielleicht war er einfach zu bekannt gewesen oder die Sache hätte vor Gericht keinen Bestand gehabt, aber es war ohnehin egal, wie es gelaufen war. Er kam so oder so nicht mehr aus dieser weißen Welt heraus. Und nüchtern betrachtet war die Klapse das stillere Loch für das, was viele eine Polizeilegende nannten.

Both afraid to say


We’re just too far away


From being close together from the start


We tried to talk it over


But the words got in the way


We’re lost inside this lonely game we play

Wieder sang er in seinem Kopf eine Strophe, die Gedanken quälten ihn. Er hatte sich die Sache mit Maria nie verziehen und alles rausgedrängt. Nur die Liebe war geblieben. Oder zurückgekommen. Die Melodie, die sie umspielte. Die Traurigkeit der weißen Wände.

Irgendwann hielt er in seinem Spiel inne. Die Finger stoppten, summend intonierte er die letzte Zeile, dann verstummte er. Der Fernseher auf dem Flur brachte zum wiederholten Male die gleiche Nachricht. Irgendein hochrangiger Politiker war an der Sektorgrenze ermordet worden. Kurz dachte er darüber nach, was das bedeuten konnte, dann zwang er sich zur Melodie zurück.

Irgendein Arschloch ist gestorben. Und morgen ist ein neuer Tag. Weiß wie jeder folgende und wie so viele der vorausgegangenen. Darauf konnte er sich verlassen und darüber war er auf eine seltsame Weise auch ganz froh.